422
Vernehmung des Angeklagten und der Zeugen.
Gewissen werde nicht wie ein sechster Sinn durch Regeln gelenkt, die
der Willkür entrückt sind? In der That kann man Niemand zur Auf
merksamkeit, ja (wie sich aus einer vor kurzem bekanntgewordenen Ent
scheidung eines deutschen Cassationshofs ergibt) auch nur zum Wachsein
zwingen. Wer kann's da verhindern, daß namentlich Geschworne,
wenn sie dem Präsidenten seine Ansicht abmerken oder abzumerken
glauben — bei der großen Achtung, die ihnen seine Stellung und
sein Wissen einflößen müssen — Beweismittel für die entgegengesetzte
Ansicht mit einem Mißtrauen, mit einer Achtlosigkeit aufnehmen, wo
durch sie verhindert werden, deren Gewicht richtig abzuschätzen — oder
daß sie die Beweise für eine vom Vorsitzenden als bewiesen hingestellte
Thatsache nicht näher untersuchen, weil sie — diesem glauben? Muß
da nicht sorgfältig geprüft und bedacht werden, was man sie hören
und sehen lassen darf?3?
Es führt uns dies zu einer dritten, nicht unerheblichen Einwen
dung gegen die Vornahme des Verhörs durch den Präsidenten. Hat
gleich das französische Gesetz über Zulässigkeit von Beweismitteln (die
Frage, in der die Engländer mit Recht den Kern aller processualischen
Erörterung sehen, und an deren Lösung seit Jahrhunderten Alle arbei
teten, die in der englischen Jurisprudenz einen Namen errungen) nur
einige karge durch das pouvoir discrétionnaire und die Theorie der
renseignements fast unwirksam gemachte Bestimmungen, so erhebt
sich doch auch in den französischen Gerichten oft ein Streit über die
Zulässigkeit eines Beweismittels, einer Frage. Wenn nun der Präsident
seine Stellung vergessend, wie das leider nur zu oft geschieht,*s) die
Formen nicht blos, sondern auch das Jedem angeborne Billigkeitsgefühl
verletzt: wer soll den Angeklagten schützen? Wenn der Mann seine
Ueberlegenheit, seine Uebung mißbraucht, um den Angeklagten zu
drängen; wenn er sich des Letzteren bedient, um seinen Scharfsinn,
seine Gewandtheit, seinen Witz im Lichte der Oeffentlichkeit glänzen zu
lassen; wenn er auffahrend und rauh mit dem Eingeschüchterten um
geht: muß der Vertheidiger schweigen, denn er ist nur dem Ankläger
gegenüber gestellt; dem Richter darf er nicht Opposition machen, und
dürfte er einen Einwand erheben — wer entschiede darüber? — Wo
soll der Angeklagte Schutz finden, wenn der unparteiische Richter in
der ersten Frage die Ueberzeugung ausspricht, daß er schuldig sei;
wenn er behauptet, diese Thatsache sei bewiesen, diese „werden wir
beweisen?"39) Was für ein Urtheil sollen die Geschwornen fällen, was
3*) Daß die englischen Beweisgesetze — die vorzugsweise die Bestimmung
haben, zu verhindern, daß etwas vor die Geschwornen gebracht werde, was auf
ihre Ueberzeugung nicht einwirken soll — so wenig Beachtung fanden, kommt
wohl von der haufigen Verwechslung derselben mit den Beweistheorien, die ver
gebens für den deutschen Inquisitionsproceß aufgestellt wurden.
33) Man braucht nicht lange in der Gazette des Tribunaux zu blättern,
um diese Ueberzeugung zu gewinnen; ich berufe mich übrigens auf das Zeugniß
Berengers a. a. O. S. 438 fgg. und Mittermaier im Gerichtssaal 1849,
Bd. I. S. 22.
*) Wörtlich im Proceß gegen Rousselet und Donon (Juni 1844). S. Braun,