Full text: Kleine Schriften über Strafrecht und Strafprozeß

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Vernehmung des Angeklagten und der Zeugen. 
Gewissen werde nicht wie ein sechster Sinn durch Regeln gelenkt, die 
der Willkür entrückt sind? In der That kann man Niemand zur Auf 
merksamkeit, ja (wie sich aus einer vor kurzem bekanntgewordenen Ent 
scheidung eines deutschen Cassationshofs ergibt) auch nur zum Wachsein 
zwingen. Wer kann's da verhindern, daß namentlich Geschworne, 
wenn sie dem Präsidenten seine Ansicht abmerken oder abzumerken 
glauben — bei der großen Achtung, die ihnen seine Stellung und 
sein Wissen einflößen müssen — Beweismittel für die entgegengesetzte 
Ansicht mit einem Mißtrauen, mit einer Achtlosigkeit aufnehmen, wo 
durch sie verhindert werden, deren Gewicht richtig abzuschätzen — oder 
daß sie die Beweise für eine vom Vorsitzenden als bewiesen hingestellte 
Thatsache nicht näher untersuchen, weil sie — diesem glauben? Muß 
da nicht sorgfältig geprüft und bedacht werden, was man sie hören 
und sehen lassen darf?3? 
Es führt uns dies zu einer dritten, nicht unerheblichen Einwen 
dung gegen die Vornahme des Verhörs durch den Präsidenten. Hat 
gleich das französische Gesetz über Zulässigkeit von Beweismitteln (die 
Frage, in der die Engländer mit Recht den Kern aller processualischen 
Erörterung sehen, und an deren Lösung seit Jahrhunderten Alle arbei 
teten, die in der englischen Jurisprudenz einen Namen errungen) nur 
einige karge durch das pouvoir discrétionnaire und die Theorie der 
renseignements fast unwirksam gemachte Bestimmungen, so erhebt 
sich doch auch in den französischen Gerichten oft ein Streit über die 
Zulässigkeit eines Beweismittels, einer Frage. Wenn nun der Präsident 
seine Stellung vergessend, wie das leider nur zu oft geschieht,*s) die 
Formen nicht blos, sondern auch das Jedem angeborne Billigkeitsgefühl 
verletzt: wer soll den Angeklagten schützen? Wenn der Mann seine 
Ueberlegenheit, seine Uebung mißbraucht, um den Angeklagten zu 
drängen; wenn er sich des Letzteren bedient, um seinen Scharfsinn, 
seine Gewandtheit, seinen Witz im Lichte der Oeffentlichkeit glänzen zu 
lassen; wenn er auffahrend und rauh mit dem Eingeschüchterten um 
geht: muß der Vertheidiger schweigen, denn er ist nur dem Ankläger 
gegenüber gestellt; dem Richter darf er nicht Opposition machen, und 
dürfte er einen Einwand erheben — wer entschiede darüber? — Wo 
soll der Angeklagte Schutz finden, wenn der unparteiische Richter in 
der ersten Frage die Ueberzeugung ausspricht, daß er schuldig sei; 
wenn er behauptet, diese Thatsache sei bewiesen, diese „werden wir 
beweisen?"39) Was für ein Urtheil sollen die Geschwornen fällen, was 
3*) Daß die englischen Beweisgesetze — die vorzugsweise die Bestimmung 
haben, zu verhindern, daß etwas vor die Geschwornen gebracht werde, was auf 
ihre Ueberzeugung nicht einwirken soll — so wenig Beachtung fanden, kommt 
wohl von der haufigen Verwechslung derselben mit den Beweistheorien, die ver 
gebens für den deutschen Inquisitionsproceß aufgestellt wurden. 
33) Man braucht nicht lange in der Gazette des Tribunaux zu blättern, 
um diese Ueberzeugung zu gewinnen; ich berufe mich übrigens auf das Zeugniß 
Berengers a. a. O. S. 438 fgg. und Mittermaier im Gerichtssaal 1849, 
Bd. I. S. 22. 
*) Wörtlich im Proceß gegen Rousselet und Donon (Juni 1844). S. Braun,
	        
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