De iustitia et iure.
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Theorie und Praxis nach den angegebenen Begriffen sind
nun so genau mit einander vergesellschaftet, daß sie von einan
der nicht getrennt werden köͤnnen, daher es eine ungereimte
Frage ist, ob nicht die eine vor der andern einen Vorzug
habe 5*)? denn die wahre Praxis laͤßt sich ohne eine grüͤnd
liche Kenntniß der Theorie des Rechts ohnmöglich geden
ken. Die Theorie ist also nur um der Praxis willen da.
Die Praxis hingegen muß der Theorie erst das Leben ge
ben; die Begriffe, die man bey der Theorie sammlet
werden erst durch die Praxis in die gehörige Deutlichkeit
gesetzet, und bekommen daher ein Licht, welches ihr durch
Umschreibung ohnmöglich gegeben werden kann. Derjenige
nun, welcher nicht nur eine gründliche wissenschaftliche Kennt
niß von der Theorie sowohl als Praxi der Rechtsgelahrtheit
besitzet, sondern auch dieselbe zur Ehre Gottes und zum
Wohl seiner Mitbürger wirklich ausübt, heißt ein Jurist,
ein Rechtsgelehrter im eigentlichen Verstande *). Von
N 5
diesem
67) S. 1o. Tob. CARRACH Diss. de conflictu theoriae et praxeos
iuris. Halae 1736. und Mart. Gottl. PAULI Diss. de theoriae
et praxis iuridicae discordia. Lips. 1747. Jn einem andern Ver
stande, nämlich wenn man sich unter der Praxis den Gerichts
gebrauch oder die Gültigkeit der Gesetze in den Gerichten ge
denket, kann ein Conflictus zwischen der Theorie und Praxis
des Rechts statt finden. S. NETTELBLADT in System. element.
doctrinar. propaedeuticar. iurispr. pos. germanor. comm. §. 41.
S. 33.
*) Nicht unrecht sagt CICERO de oratore Lib. I. cap. 48. in fin.
Sin quaereretur, quisnam lurisconsultus vere nominaretur; eum
dicerem, qui legum, et consuetudinis eius, qua privati in civi
tate uterentur, et ad respondendum, et ad agendum, et ad ca
vendum, peritus esset.