Full text: Bitschnau, Otto: Christliche Standes-Unterweisungen

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bloß die kurze Lebenszeit und die großen Erbarmungen Gottes mißbraucht, sondern sich 
selbst die Kette einer Gewohnheit anschmiedet, welche äußerst mühsam wieder abgelöst wird, 
welche als Inschrift die Drohung trägt: „Wie man lebt, so stirbt man." Es ist für den 
Hoffärtigen nicht bloß gefährlich, sondern „schrecklich, in die Hände des lebendigen Gottes 
zu fallen“ (Hebr. 10,31); denn er ist dem ewigen Richter verhaßt (I. Petr. 3,5) und wird, 
wie der stolze Pharisäer, der sich seiner vielen guten Werke rühmte (cf. Luk. 18,14), un¬ 
gerechtfertigt, d. h. der Höllenstrafe schuldig. 
Stürzen ohne Gnad' hinab. 
In das grauenvolle Grab, 
In der Geister ew'ge Hallen, 
Die von Gott sind abgefallen. 
Dort sind Qualen ohne Ruh, 
Immer, immer, 
Ruft ein Tag dem andern zu; 
Und das schreckenvolle Wort 
Immer, immer, 
Tönt verzweilfelnd ewig fort. 
Wohlan, mein Freund, wie gefällt dir die Michelina in ihren schönsten Jugend¬ 
jahren, da sie von dem gütigen Gott mit herrlichen Vorzügen und Glücksgütern reichlich 
beschenkt, ihres Wohlthäters vergaß, an sich selbst Götzendienst trieb und sich selbst zur 
Bettlerin um den Beifall der Menschen erniedrigte? Siehe, sie hatte in diesen Jahren 
keinen größeren und schädlicheren Feind, als sich selbst, ihre Eigenliebe und Sinnlichkeit, 
genährt und gepflegt von den niederträchtigen Schmeichlern, von denen sie später bitter 
gekränkt und schimpflich behandelt wurde. Auch du hast, woferne du undankbar vergissest, 
daß dir alles, was du bist, hast und kannst, der gütige Gott geschenkt hat, und dich damit 
brüstest, als hättest du es nicht empfangen (I Kor. 4,7), an dir selbst, an deiner Eigenliebe, 
an deiner Sinnlichkeit den stärksten und gefährlichsten Feind, welcher dir das Wohlgefallen 
Gottes, den Frieden des Herzens, die Achtung bei den Verständigen raubt, welcher dich 
den schmutzigen Begierden und gemeinen Leidenschaften überantwortet und nicht ruht, bis 
das Maß deiner Schande und deines Unglückes voll ist. Wieder frage ich dich: Wie ge¬ 
fällt dir Michelina in ihren späteren Jahren, in welchen sie — ihre wahre Würde und 
ihre ewige Bestimmung anerkennend — das von Gott, dem Schöpfer und Erlöser Empfangene 
nach dem Gesetze der Gerechtigkeit verwendete; in welchen sie Gott gab, was Gott gehörte 
nämlich ihr Herz, ihre ganze Liebe; in welchen sie den Mitmenschen gab, was sie ihnen 
schuldig war, nämlich die leiblichen und geistlichen Werke der Barmherzigkeit; in welchen 
sie gegen sich selbst gerecht war, nämlich mehr für die Heiligung ihrer Seele, als für die 
Sättigung ihres Fleisches Sorge trug?" Du antwortest mit fester Überzeugung: „Nichelina 
 
 
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