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Unterricht.
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ie Lebensgeschichte des hl. Maurus hat dich jetzt gewiß angenehm
befriedigt über die anfangs kühn scheinende Behauptung, daß der
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christliche Gehorsam, der freie, selbstbewußte, aus der Liebe zu Gott
geborene Wille zu thun, was Gott wohlgefällig ist, die Mutter aller Tugenden ist. Du
hast jetzt selbst gesehen, wie der Gehorsam, den der junge Schüler des hl. Benedikt schon
in den ersten Lehrjahren auf heldenmütige Weise übte, sein langes, segensreiches Leben
geadelt und verherrlichet hat. Der Gehorsam ist daher nicht, wie die Welt jammert, eine
Knechtschaft, nicht eine Entehrung der Menschenwürde, nicht eine Vernichtung seines höchsten
und heiligsten Gutes — seiner Freiheit, sondern seine Zier und sein Glück. Gerade dem
noch unerfahrenen Jüngling sagt der hl. Geist durch den Propheten Jeremias: „Es ist
gut für einen Mann, wenn er das Joch des Herrn von Jugend auf getragen hat“
(Klagl. 3, 27). Zur Beleuchtung dieser Wahrheit betrachte:
I. Die Notwendigkeit des Gehorsams.
Von jedem einzelnen Menschen, sei er in der kaiserlichen Hofburg zu Wien, oder
in einer ärmlichen Taglöhnerhütte auf dem Schwarzwalde geboren, gilt das große Wort
des Psalmsängers: „Du, o Gott, hast ihn mit Herrlichkeit gekrönt" (Ps. 8, 6), und wir
haben schon früher (Seite 91, 100, 109) diese Herrlichkeit und Ehre des Menschen und
Christen betrachtet. Allein Gottes Wille und Anordnung ist es, daß kein Mensch hier auf
Erden für sich als Einzelnwesen lebe, arbeite, bete. Gott erschafft jeden Menschen als eine
selbständige Persönlichkeit nach seinem Ebenbilde und Gleichnisse, aber zugleich auch als ein
soziales Wesen, als Glied einer Gesellschaft. Jeder Mensch verdankt der Gesellschaft sein
Dasein, seine Erziehung, seine Bildung, sein Ansehen; er lebt und wirkt von der Wiege
bis zum Grabe in der Gesellschaft mit Menschen, deren Hilfe er nicht entbehren und deren
Einfluß er sich nicht entziehen kann. Jede Gesellschaft ist ein Verein von Menschen,
der Verein von zwei Personen in der Ehe, von zwei oder mehreren Personen in der
Familie, von vielen Personen im Staate und in der Kirche. Jede Gesellschaft hat ihre
besondere, gemeinschaftliche Bestimmung und verfolgt ein bestimmtes, gemeinschaftliches Ziel,
welches sie nur durch das einträchtige Zusammenwirken aller Gesellschaftsmitglieder erreichen
kann und soll. Das einträchtige Zusammenwirken aller Gesellschaftsmitglieder muß sich
notwendig in dreifacher Weise bethätigen: in Gehorsam, in Arbeit und in Gebet. Der
bürgerliche und religiöse Gehorsam erhält jede Gesellschaft in ihrer Einheit, im Frieden
und in der Wohlfahrt und setzt sie zugleich in die richtige Beziehung zum Staate und zur
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Max-Planck-Institut für Bildungsforschung