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aber plötzlich wich der Boden unter seinen Füßen, und eine Welle riß den des Schwimmens
Unkundigen einen Steinwurf weit vom Lande weg. Das wachsame Auge des Benedikt
bemerkte sogleich die drohende Gefahr und befahl dem Maurus: „Geschwind, hilf dem
gefährdeten Placidus und hole ihn aus dem Wasser.“ Dieser kniet augenblicklich nieder,
bittet um den Segen des Lehrers, springt zum See, mißt die Entfernung des sinkenden
Mitschülers vom Ufer, überlegt nicht die Tiefe des Wassers, denkt nur an den Auftrag
des Meisters, an die befohlene Hilfeleistung und Rettung. Er schreitet über die plätschernde
Fläche des Sees, als hätte er festen Boden unter den Füßen, faßt den mit dem Code
Ringenden am Arm und zieht ihn zurück ans Land. Als Maurus den geretteten Placidus
zum hocherfreuten Benedikt zurückbrachte, verherrlichte Gott dieses Wunder des Gehorsames
durch ein neues Wunder der Demut. Es entstand nämlich zwischen dem Schüler Maurus
und dem Meister Benedikt der fromme Streit, welchem von beiden der unvorsichtige
Placidus die Rettung seines Lebens zu verdanken habe? Benedikt behauptete, die wunder¬
bare Rettung des Placidus sei der Lohn, womit Gott den opferwilligen Gehorsam des
Maurus geehrt habe; hingegen dieser behauptete, die wunderbare Erhaltung des Placidus
am Leben sei die Frucht des hl. Segens, welchen der Lehrmeister durch sein Gebet und
Gottvertrauen ihm gegeben habe. Diesen Streit hat der berühmte Theologe und Bischof
Bossuet endgültig entschieden durch das schöne Urteil: „Beide hatten vollkommen Recht;
denn der Gehorsam erlangt von Gott die Gnade, das Befohlene willig und pünktlich zu
thun; der Befehl erlangt von Gott die Gnade, den Gehorsam mit dem guten Gelingen
zu krönen."
Der lobende Ruf der Geistesgröße Benedikts, seines liebenswürdigen Wesens und
Charakters, sowie der Ruhm seiner zahlreichen Schüler wegen ihrer gründlichen Wissen¬
schaft und Frömmigkeit erscholl weit hinaus über die Grenzen Italiens. Fürsten und
Bischöfe bestimmten mit ihren Bittgesuchen den gefeierten Gottesmann auf seinem einsamen
Monte Cassino, daß er von seinen Schülern Taugliche in ihre Länder und Diözesen schicke.
Nebst vielen andern wurde auch Innocenz, der fromme Bischof von Mans in Frankreich,
erhört. Benedikt befahl seinem Liebling Maurus, daß er, von noch vier Nitbrüdern be¬
gleitet in das Land der Franken gehe und dort klösterliche Schulen, Pflanzstätten des
lebendigeren Christusglaubens an der werkthätigeren Gottes= und Menschenliebe gründe.
Mit dem Segen seines geliebten Meisters und mit den Glückwünschen seiner teuren
Mitbrüder ausgerüstet, nahm Maurus Abschied von seiner Heimat und trat — das Buch
der hl. Evangelien in der Hand und die vom hl. Geiste eingegebene Ordensregel auf der
Brust — die mühevolle Reise in die Fremde an. Als er und seine vier Begleiter im
Januar 543 zu Mans ankamen, lag der Bischof Innocenz schon im Grabe und sein
Nachfolger im Amte, aber nicht im Hirteneifer wollte von der Gründung eines Klosters
in seiner Diözese nichts hören, geschweige eine Hand zur Hilfe bieten. Die armen Missionäre
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