Full text: Bitschnau, Otto: Christliche Standes-Unterweisungen

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Freund religiöser Erbauungsbücher, hielt uns Kinder, neun Söhne und drei Töchter, mit 
Ernst an zum Lesen derselben. Unsere Mutter, reich an Kenntnissen, sehr sittsam und 
bescheiden in ihrem Benehmen, geduldig in ihren vielen Leiden, feind jeglicher Art weib¬ 
licher Eitelkeit und freundlich wie ein Engel gegen jedermann, verstand es vortrefflich, 
uns zum andächtigen Gebete und zur Verehrung der lieben Mutter Gottes anzuleiten 
und aufzumuntern. Dadurch fühlte ich mich schon in meinem sechsten Jahre mächtig an¬ 
getrieben, den ewigen, gütigen Gott kennen zu lernen, Ihn zu lieben, Ihm zu dienen 
Zugleich beobachtete ich ganz klar, daß ich die Liebe und das Wohlgefallen meiner Eltern 
gerade durch das eifrige Streben nach Frömmigkeit am sichersten und vollständigsten ge¬ 
winnen könne. Sie selbst beleuchteten durch ihr Beispiel uns Kindern den steilen Weg 
der Tugend; sie waren sehr mildthätig gegen die Armen und Kranken, freundlich und 
ernst gegen alle im Hause, hielten streng auf Zucht und Ehrbarkeit, duldeten kein Wort 
des Unfriedens und nicht den Schatten einer üblen Nachrede über Eigene oder Fremde. 
Mein etwas älterer Bruder Rodrigo und ich hatten eine besondere Zuneigung zu einander 
Wir lasen öfters die Lebensgeschichten der Heiligen mit einander und wurden durch die 
Betrachtung ihrer Arbeiten und Leiden, wodurch dieselben so schnell und, wie es uns 
vorkam, sehr wohlfeil die ewigen Freuden des Himmels kauften, so mächtig aufgeregt, 
daß wir in feuriger Sehnsucht nach den seligen Genüssen und Vergnügen des Himmels 
den Entschluß faßten, heimlich nach Afrika zu gehen, damit wir dort, von den ungläubigen 
Mohren wegen unseres offen bekannten Glaubens an Jesus getötet, die Martyrkrone ge¬ 
winnen. Wirklich schlichen wir zur Stadt hinaus, ohne zu wissen, wohin wir gehen; 
allein der Onkel vereitelte unser Vorhaben, führte uns zu den Eltern zurück, und scharfc 
Verweise waren der Lohn unseres frommen Eigensinnes.“ 
Unterdessen erreichte Theresia den zwölften Frühling ihres Erdenlebens. In 
diesem gefahrvollen Alter, angelangt an dem Aufblühen ihrer Jungfräulichkeit, wo sie 
des wachsamen Auges und der klugen Hand ihrer Nutter am meisten bedurft hätte, ent¬ 
riß der unbarmherzige Tod ihr dieselbe. Von Trauer und Schmerz niedergebeugt wankte 
Theresia in die Hauskapelle, kniete vor dem Bild der gebenedeiten Nutter Gottes und 
flehte unter vielen Chränen: „O Naria, erbarme dich meiner, sei du meine Mutter und 
nimm mich als dein Kind an; ich will dich ehren und lieben!" Sie vollzog diese Weihe 
an Maria mit der aufrichtigsten Einfalt des Herzens und beteuerte mit Freuden in ihrem 
hohen Alter uoch, daß Maria ihre überaus gütige Mutter immer gewesen und in Allem ihr 
hilfreich beigestanden sei, um was sie dieselbe bittend angefleht habe. Wie sehr dieses lebens¬ 
frohe, schwärmerische Nädchen den weisesten und mächtigsten Schutz Marias notwendig 
hatte, bezeugt das schmerzliche Bekenntnis der selbstgemachten Erfahrung. Sie schreibt: 
„Ach wie übel handeln die Eltern, welche nicht mit der treuesten Sorgfalt wachen, daß 
ihre Kinder allzeit und überall nichts anderes sehen und hören, als was für ihren starken 
 
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Digitalisierungsvorlage: 
Max Planck Institute for Hluman Developmen
	        
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