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wird bei gehöriger Entfernung der Schenkel des Cirkels immer
durch das Gefühl unterscheiden können, ob das Kügelchen über
oder unter der Spitze ist. Wäre nun das Sehen des Oben
und Unten nichts weiter als ein Empfinden des Licht- und Far¬
beneindrucks an einer beziehungsweise tiefern oder höhern
Stelle der Netzhaut, so würde diese Unterscheidung
mit der Gefühlsunterscheidung des Oben und Unten
des ganzen Körpers, welche thatsächlich die entge¬
gengesetzte ist, in Widerspruch kommen. Offenbar
aber ist das Sehen gar nicht ein solches blos innerliches En¬
pfinden des Farbigen und Leuchtenden. Chesselden’s Operirten
und eben so Andern dünkte das Gesehene anfangs zwar das
Auge zu berühren, aber es ist, soviel uns bekannt, nirgends
bemerkt, dass sie anfangs die Gegenstände etwa in sich
hinein versetzt hätten, wie es seyn müsste, wenn Sehen je
ein blos subjectives Fühlen auf der Netzhaut, d. h. Empfinden
eines Zustandes derselben seyn könnte. Aber schon Kepler
sagte: wenn die Seele den auf den untern Theil der Netzhaut
fallenden Lichtstrahl empfinde, so betrachte sie ihn so, als wenn
er von oben herabkomme und nehme daher für den obern Theil.
was sich unten abbilde. Freilich entsteht nun aber weiter die
wichtige Frage, wie wir dazukommen, den Lichtstrahl als von
oben her kommend zu betrachten. Darauf scheint nun die ein¬
lächste Antwort die: die Affection der Netzhaut durch den
Lichtstrahl ist nicht eine rein oberflächliche; es malt sich nicht
auf ihrer geometrischen Fläche ein Bild, wie ein Schatten, der
die Oberfläche, auf die er fällt, nicht im mindesten verändert.
sondern der Lichtstrahl übt einen Eindruck aus, in seiner
Art ebenso, wie der Körper, gegen den wir uns stossen, oder
der nach uns geworfen wird, in unsre Hautoberfläche einzu¬
dringen versucht. Dieser Eindruck des Lichts ist keine blosse
Annahme, sondern eine Thatsache. Findet er nämlich statt.
so muss der schief in das Auge einfallende Lichtstrahl nicht
von einem Objecte auszugehen scheinen, das in seiner rück¬
warts zu nehmenden Verlängerung zu suchen ist, sondern von
Max-Planck-Institut für Bildungsforschung