Full text: Psychologie. ¬Die Lehre von dem Erkenntnißvermögen (Th. 1)

Verschiedenheit des Sinnes. § 9. 
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rer und innerer Sinn eigentlich nur relative Gültigkeit, indem der Sinn an sich beides 
zugleich ist. Eigentlich und strenge heißt der Sinn ein äußerer in Beziehung auf 
ein vorausgesetztes (gedachtes) äußeres Object, d. i. ein Nichtich: er heißt ein 
innerer in Beziehung auf ein vorausgesetztes (gedachtes) inneres Subject, 
d. i. ein Ich. Vermittelst des äußern Sinnes und seiner Organe spiegelt 
sich die Außenwelt in der innern Naturseite des Menschen ab, wodurch es dann 
ferner geschieht, daß der Geist zur Kenntniß der äußern Dinge gelangt, wo¬ 
gegen umgekehrt beim innern Sinne der Geist sein eigenes Leben in der Form 
der Zuständlichkeit der innern Naturseite mittheilt und mit Hülfe der ihm dienst¬ 
baren Naturorgane seine Gedanken und Empfindungen vermittelst der Sprache 
oder auch anderer Zeichen verkörpert. Der Sinn bloß als solcher, der äußere und 
der innere, gehört also dem Naturleben an, aber nur der Geist ist es, welcher 
vermittelst des Sinnes zur selbstbewußten Thätigkeit gelangt und bis 
zum Wissen um sich selber und um die Natur als solcher vordringt*). Bei dem 
äußern Sinne ist der Reiz oder die Erreguug vorzüglich bemerkbar; so wird 
das Auge durch das Licht, das Ohr durch den Schall, die Hand durch den 
Widerstand der Körper erregt: beim innern Sinne ist die Erregung mehr geisti¬ 
ger Art, doch ist auch der Geist erregbar sowohl durch den Körper, als durch 
sich selbst, durch Vorstellungen, Gefühle und Bestrebungen, welche auch wieder 
erregend auf den Körper einwirken. Die Sinnesthätigkeit des Menschen fängt 
mit der äußern an und ohne alle äußere Sinnesthätigkeit ist gar keine innere 
möglich. So wie alle unsere Kenntniß der Außenwelt auf dem äußern Sinne 
beruhet, so beruhet alle unsere Kenntniß der Innenwelt auf dem inneren Sinne: 
auf ihm beruhet alle Kenntniß unserer selbst oder unser gesammtes Selbstbe¬ 
wußtsein; sogar die Hälfte unserer Kenntniß der äußern Dinge beruhet auf ihm. 
Bemerkenswerth ist, daß man in der neuern Zeit die Wirklichkeit eines innern 
Sinnes entweder geradezu geleugnet, oder doch behauptet hat, es sei der innere 
Sinn nichts Anderes, als das Gefühlsvermögen**). 
Aber wenn es wahr ist, 
was man doch ausdrücklich als wahr zugesteht, daß es wirklich innere Objecte 
d. i. Affectionen unserer Seele gebe, so wird man doch auch die Annahme eines 
Vermögens der Wahrnehmung dieser inneren Objecte nicht umgehen können 
und man hat dann einschließlich die Wirklichkeit des innern Sinnes behauptet 
Auch haben wir oft innere Wahrnehmungen, welche, so viel sich bemerken läßt. 
in Beziehung auf das Gefühlsvermögen gleichgültig sind, und wenn sich mit 
*) In diesem Sinne sagt sehr richtig Epicharmus (bei Aristot. Probl. Sect. XI. 33): 
Noos oo al voos àxobet, rålla vwgd xal rvod. 
Cernit animus, animus audit: reliqua surda et caeça sunt, 
**) Vergl. Herbart Handbuch zur Psychol. S. 30; ebenfalls Psychologie als Wissen¬ 
schaft Thl. 1. S. 68 und Schulze Psych. Anthrop. S. 34. 
3* 
Max-Planck-Institut für Bildungsforschung
	        
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