Full text: Psychologie. ¬Die Lehre von dem Erkenntnißvermögen (Th. 1)

Max-Planck-Institut für Bildungsforschung 
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1. Theil. Die Lehre vom Geiste. Erkenntnißvermögen. 
rechterhaltung ihres Pflichtgebotes wegen, diese theoretischen Zweifel auszuschließen, 
wenn sie der Art sind, daß ohne deren Ausschließung die Erfüllung dieser Pflicht in kei¬ 
nem einzigen Falle möglich wäre. Allerdings fordert die Vernunft überall Entschieden¬ 
heit, wo es sich um die Erfüllung einer allgemeinen und unbedingten Pflicht handelt, 
und allerdings befinde ich mich in dem Pflichtfalle, wenn ich erkenne, daß die 
Pflicht gänzlich für mich aufhörte, Pflicht zu sein, wenn ich sie in diesem bestimm¬ 
ten Falle nicht zu erfüllen brauchte. Diese Entschiedenheit wird aber nicht erst 
durch die Erkenntniß der Pflicht oder durch die (moralische) Nothwendigkeit ih¬ 
rer Erfüllung bedingt, sondern sie ist hievon unabhängig schon vorhan¬ 
den, und es hat diese Entschiedenheit nicht darin ihren Grund, daß ohne die 
selbe die Erfüllung einer allgemeinen und unbedingten Pflicht immer und über¬ 
all unmöglich ist, sondern sie hat lediglich darin ihren Grund, daß sie Entschie¬ 
denheit über die Wirklichkeit eines Etwas ist, dessen Gegentheil zwar lo¬ 
gisch denkbar (widerspruchslos) aber auch nur logisch denkbar 
und an sich unbegreiflich ist. So ist es allerdings logisch denkbar, daß je 
der Mensch, der Andere um eine Gabe bittet, auch da, wo er dem Tode be¬ 
reits entgegenröchelt, einen geheimen Schatz besitzen könne, den er aus bloßem 
Geize nicht anbrechen will, so wie es logisch denkbar ist, daß jeder Arzt, auch 
der anerkannt rechtschaffenste, die geheime Absicht haben könne, den Kranken zu 
morden, und wie es logisch denkbar ist, daß auch die beglaubigteste Geschichte 
ein Gewebe von Unwahrheit, Lug und Betrug sei: aber es ist dieses auch nur 
denkbar und an sich unbegreiflich, d. i. nicht allein grundlos, sondern auch grund¬ 
widrig, und deshalb kommt ein solcher Zweifel, wenn man einen solchen Ge¬ 
danken einen Zweifel nennen will, dem Menschen bei Vernunftgebrauch weder 
überhaupt noch im Falle der wirklichen Pflichterfüllung in den Sinn*). Das 
Fürwahrannehmen der verpflichtenden Vernunft geht somit in 
dem Fürwahrhalten auf und es selbst ist nicht ein Fürwahrnehmen, son¬ 
dern es ist ein Fürwahrhalten, wie überhaupt da, wo wir in der That 
entschieden sind, unsere Entschiedenheit nicht ein Annehmen, sondern ein Halten 
ist. Wo wir aber für wahr halten, da finden wir immer und überall in 
uns vor 1) eine Erkenntniß oder bestimmter ein Urtheil, d. i. eine zwi¬ 
schen Subject und Prädicat gedachte Beziehung; 2) eine Entschiedenheit, 
d. i. ein Zustand des ausgeschlossenen Zweifels über die Wahrheit dieser 
Erkenntniß und einschließlich über die Wirklichkeit des erkannten Gegenstandes. 
Weil das Fürwahrhalten immer eine Erkenntniß zur Voraussetzung hat, so kann da 
kein Fürwahrhalten entstehen, wo die Erkenntniß selbst fehlt oder wo sie unmöglich ist: 
dagegen kann an sich jede dem Menschen mögliche Erkenntniß Gegenstand des Fürwahr¬ 
*) Vgl. § 67, S. 279 insbesondere die Note *, auch § 68, S. 284.
	        
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