Full text: Psychologie. ¬Die Lehre von dem Erkenntnißvermögen (Th. 1)

Max-Planck-Institut für Bildungsforschung 
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1. Theil. Die Lehre vom Geiste. Erkenntnißvermögen. 
gestellt. Lediglich durch diese vom Protestantismus angeregte Sorge für das Chri¬ 
stenthum, auf dem Wege der Bibel, hat der Buchstabe den hohen und allge¬ 
meinen Werth erhalten, den er seitdem hat; er wurde das fast unentbehrliche 
Mittel zur Seligkeit, und ohne lesen zu können, konnte man nicht länger füglich 
ein Christ sein *). Lessing's Orthodoxie und seine innere Ruhe scheiterte bekannt¬ 
lich an dem Buchstaben, an ihm scheitert mancher große Geist und ewig wahr 
bleibt es: „der Buchstabe tödtet, der Geist macht lebendig.“ 
Zweiter Abschnitt. 
Das Anerkennungs= oder das Wahrheitsvermögen insbesondere. 
Entschiedenheit über Wahrheit und Wirklichkeit überhaupt. 
§ 75. 
Verbindet sich mit der Erkenntniß ausdrücklich oder stillschweigend das 
Urtheil, daß die Erkenntniß Wahrheit habe, so wird die Erkenntniß zur An¬ 
erkenntniß. So wird die Handschrift oder die Unterschrift anerkannt, wenn 
das Urtheil vorhanden ist, daß sie eine wahre sei. Die Anerkenntniß ist gleich¬ 
sam ein öffentlich ausgesprochenes Bekenntniß, daß man die Erkenntniß für 
wahr hält. Die Anerkenntniß setzt somit den Begriff der Wahrheit und das Ver¬ 
mögen, über Wahrheit zu entscheiden, voraus. Der Begriff der Wahrheit muß 
verschieden ausfallen, je nachdem man die menschliche Erkenntniß von zwei Fac 
toren, nämlich von dem erkennenden Subjecte und dem erkannten 
Objecte, oder bloß von einem einzigen Factor, nämlich dem erkennen¬ 
den Subjecte allein abhangen läßt. Im ersten Falle haben wir den alten, 
im zweiten haben wir den neuen Wahrheitsbegriff. Dort ist Wahrheit Ueber¬ 
einstimmung der Erkenntniß mit dem Erkannten, hier ist Wahrheit 
Uebereinstimmung der Erkenntniß mit den allgemeinen und formalen Gesetzen des 
Verstandes und der Vernunft oder klarer: Uebereinstimmung der Erkenntniß 
mit den Gesetzen des Erkennens. Das Verhältniß dieses doppelten Wahr¬ 
heitsbegriffes zu einander ist in der Kürze dieses, daß der erste den alten Glau¬ 
ben an eine von dem Subjecte unabhängige Realität unangefochten bestehen 
läßt, wogegen der zweite diesem Glauben schon im Voraus den Krieg ankündigt 
oder denselben im Voraus schon als Wahn bezeichnet. Jener steht mit den For¬ 
derungen des gesunden Menschenverstandes, welcher wirkliche Dinge und nicht 
bloße Vorstellungen von Dingen verlangt, und mit allen positiven Institutionen 
im besten Einklange, dieser steht damit im Widerspruche. Ein Kampf der Sub¬ 
*) Fichte, Grundzüge des Zeitalters S. 219.
	        
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