Full text: Psychologie. ¬Die Lehre von dem Erkenntnißvermögen (Th. 1)

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Die Schrift. § 74. 
chen bedarf, um alle Wörter einer Sprache darzustellen. Dieses ist die Entste¬ 
hung der Buchstabenschrift, über deren Erfinder die Untersuchungen das 
Dunkel noch nicht gehoben haben. Vielleicht gingen die Zahlzeichen den Buchsta¬ 
ben voran; wenigstens tritt das Bedürfniß zu zählen sofort ein, sobald Menschen 
in Verkehr treten und sich Gegenstände übergeben und austauschen, womit dann 
auch von selbst die Nothwendigkeit der Zahlzeichen eintritt. Das Zählen geschieht am 
natürlichsten an den Fingern, worin auch das Decimalsystem seinen Ursprung 
hat (ex manibus denarius digitorum numerus sagt Vitruv); auch sind die römi¬ 
schen Zahlen ganz offenbar von den Fingern*) und der Hand entnommen, indem 
die Zahl von eins bis vier durch vier Striche, fünf durch die ganze Hand, 
nämlich durch V, zehn aber durch die beiden Hände in umgekehrter Form X 
bezeichnet wurde. Hundert wurde einfach durch C (centum), tausend durch M 
(mille) bezeichnet. Allerdings ist von den Zahlen zu den Buchstaben noch ein 
weiter Schritt: waren aber für die Zahlen einmal Zeichen vorhanden, so konnte 
man diesen auch leicht eine andere Bedeutung geben, wie ja auch in vie¬ 
len der ältern Sprachen die Buchstaben zugleich Zahlzeichen sind und im He¬ 
bräischen sogar Zählen und Schreiben durch dasselbe Wort ausgedrückt wird. 
Hatten aber die zehn Zahlzeichen einmal die Bedeutung der Buchstaben erhal¬ 
ten, so war es leicht, diese allmählich nach den Bedürfnissen zu vermehren, 
wobei höchst wahrscheinlich die ältere abbildende und hieroglyphische Sprache 
noch Dienst leistete **). So wie das Wort gesprochen wird, so wird die Schrift 
gelesen. Das gesprochene Wort führt auf seinen Gegenstand unmittelbar, das 
geschriebene führt darauf bloß mittelbar. Darum steht die Schrift überhaupt weit 
hinter der Sprache zurück. Der Naturmensch schreibt nicht, sondern er spricht, 
und das, was er spricht, wird nicht gelesen, sondern gehört. Schon hat das Le¬ 
sen des Geschriebenen an sich etwas Unnatürliches, mit dem wir uns erst nach 
und nach unvermerkt aussöhnen. Das Kind lernt das Sprechen von selbst, das 
Lesen und Schreiben nur mit Mühe. Die Sprache hängt weit mehr, als die 
Schrift, mit dem Gedanken zusammen, wie ja auch die Sprache nur angewandte 
Logik ist, deren Berücksichtigung selbst die Wissenschaft der Logik nicht umgehen 
kann, wenigstens nicht umgehen soll; darum sind Kinder, auch ungebildete Er¬ 
wachsene, immer geneigt, laut zu denken; darum ist wenigstens unser klares Den¬ 
ken immer ein stilles Sprechen, nämlich ein geistiges Selbstgespräch; darum ist 
es immer eine Erschwerung des Denkens, still, und eine noch weit größere, ohne 
Seu quia tot digiti, per quos numerare solemus. 
Ovid. Fast. III. 123. 
Wie man sich beim Zählen der Finger, so bediente man sich beim Messen der Spanne 
(Palme), des Fußes, des Armes (Elle, Ellenbogen). 
**) Vgl. Bonner Zeitschr. VII, 2, S. 199. 
21* 
Max-Planck-Institut für Bildungsforschung
	        
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