Full text: Psychologie. ¬Die Lehre von dem Erkenntnißvermögen (Th. 1)

Max-Planck-Institut für Bildungsforschung 
Dritte Abtheilung. 
Das Erkenntniß= und das Anerkennungsvermögen. 
Erster Abschnitt. 
Das Erkenntnißvermögen überhaupt. 
Begriff des Erkennens. 
1. 
§ 70. 
1. Das Denkvermögen heißt auch mit einem andern, jedoch einschränkenden Na¬ 
men, das Erkenntnißvermögen. Im weitesten Sinne des Wortes verstehen wir 
unter Erkenntniß jedwede Vorstellung eines Gegenstandes durch seine unterschei¬ 
denden Merkmale, und in diesem Sinne legen wir schon dem kleinsten Kinde, selbst dem 
Thiere, eine Erkenntniß zu. Im engern Sinne des Wortes aber verstehen wir unter Er¬ 
kennen die Subsumtion eines gegebenen Gegenstandes unter einen auf diesen Ge¬ 
genstand bezogenen Begriff, d. i. den Gedanken, insbesondere den nothwendigen 
Gedanken des Enthaltenseins oder auch des Nichtenthaltenseins des betreffenden 
Gegenstandes unter einem Begriffe. Jedes Erkennen ist darum auch ein Denken, 
darum aber noch nicht jedes Denken ein Erkennen. Wir denken schon, wenn wir 
Begriffe bilden und diese auf einander beziehen; wir erkennen aber erst dann, 
wenn wir auf einen Gegenstand einen Begriff beziehen, d. i. ihn denken und abermals 
denken, insbesondere denken müssen, daß das betreffende Object wirklich unter 
den Begriff gehöre, d. h. unter dem Begriffe enthalten sei. So sagen wir: ich 
erkenne, daß dieser Vogel ein Habicht sei, nachdem wir auf diesen Gegenstand, 
den Vogel, den Begriff Habicht angewandt hatten und nun auch dachten, ins¬ 
besondere denken mußten, daß der Vogel wirklich unter dem Begriffe des Ha¬ 
bichts enthalten sei. Zum Erkennen im eigentlichen Sinne gehören also drei Stücke: 
1) ein vorgestellter Gegenstand; 2) die Uebertragung eines Begriffes darauf; 
3) das neue Denken, daß der Gegenstand unter diesen Begriff gehöre, d. h. un¬ 
ter demselben enthalten sei. Die Anschauung, durch Sinn oder durch Einbildungs¬ 
kraft, ist also noch keine Erkenntniß, sondern sie liefert nur den Stoff für die
	        
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