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Vernunft. Rückblick auf das Vernunftdenken. § 69.
allgemeine menschliche Vernuuft geben soll, so kann diese lediglich in der Ueber¬
zeugung bestehen, daß dasjenige, was der einzelne Mensch in seinem
vernünftigen Selbstbewußtsein wirklich und nicht etwa bloß
scheinbar findet, sich auch in dem vernünftigen Selbstbewußtsein
eines jeden Menschen ohne Ausnahme finden werde — eine Ueber¬
zeugung, die der Mensch in seinem vernünftigen Selbstbewußtsein in der That
als eine gegebene und unvertilgbare vorfindet. Von dieser Ueberzeugung,
daß die Thatsachen des Selbstbewußtseins im Leben Aller sich
ausnahmslos wiederholen, geht der Mathematiker, geht selbst jeder Mensch
in seinem täglichen Leben aus und alle Wissenschaft und alles Leben wäre
ohne diese Voraussetzung reiner Unsinn: ja es wäre wahre Erkenntniß rein un¬
möglich, wenn man eine Erkenntniß erst dann für eine wahre halten dürfte,
wenn man früher Alle gefragt hätte, ob ihnen die Erkenntniß als eine
wahre gelte. Die allgemeine Vernunft ist somit entweder gar nichts oder sie ist
gerade dasjenige vermeintliche Gespenst (der Ausspruch des Selbstbewußtseins),
welches man vermittelst der Unterscheidung zwischen allgemeiner und individuel¬
Schließlich ist noch mit wenigen Worten des
ler Vernunft verbannen will. —
Verhältnisses zu gedenken, in welches die Vernunft, dem Bisherigen gemäß, zu
den ihr vorangehenden Vermögen, zum Verstande und zur Phantasie tritt. Weil
das Vernunftgebiet ein von dem Verstandesgebiete sowohl als von dem Phan¬
tasiegebiete wesentlich verschiedenes ist, so ist es jedenfalls unstatthaft, die Ver¬
nunftobjecte gleich den Objecten der Anschauung und Wahrnehmung aufzufas¬
sen und zu beurtheilen, und der Verstand erhält von der Vernunft die
Anweisung, daß er ihren Inhalt nicht in seiner gewohnten Weise zu bearbeiten
suche, dadurch nämlich, daß er denselben durch seine Begriffe eigenthümlich
ich vorstellt, wie den Inhalt eines auf sinnlichem Wege gefundenen Objectes,
sondern daß seine Begriffe auf dem Vernunftgebiete nur eine ähnliche oder
analoge Geltung haben, so wie ebenfalls die Phantasie von der Vernunft
die Anweisung erhält, sich nicht eine Entscheidung über die Realität der Ver¬
nunftideen anzumaßen, sondern diese Entscheidung ihr selbst, der Vernunft, zu
überlassen und es ihr, der Phantasie, nur erlaubt, die Vernunftideen in einer
mit ihnen selbst übereinstimmenden Weise auf dem Gebiete der Kunst und des
Cultus zu versinnlichen und dadurch auf ästhetische Weise zu unserer Anschauung
zu bringen.
Max-Planck-Institut für Bildungsforschung
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