Full text: Psychologie. ¬Die Lehre von dem Erkenntnißvermögen (Th. 1)

Vernunft. Rückblick auf das Vernunftdenken. § 69. 
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mene vernünftig nicht für wirklich halten könnten, möglichst ähnlich uns vorstel¬ 
len können und sollen. So sind z. B. die Begriffe von Grund, Ursache, Kraft 
an sich offenbar Verstandesbegriffe, d. i. wahrnehmungsmäßige Vorstel¬ 
lungsweisen, nach welchen wir dasjenige, was den Andeutungen der Vernunft 
entspricht, einigermaßen so uns vorstellen, als wenn es uns in der sinnlichen 
Wahrnehmung begegnete. Wenn es also heißt, daß die Vernunft für Alles einen 
zureichenden Grund fordere, so heißt dieses, die Vernunft gebe uns eine 
Andeutung zu denken, daß sich Alles zu irgend etwas auf ähnliche Weise 
verhalte, wie das Haus oder das Meer zu seinem Grunde oder zu sei¬ 
nem Boden, sofern es von diesem gehalten und getragen wird. Dieses 
ist auch wohl die Veranlassung, weshalb die reinen Vernunftbegriffe so oft 
mit empirischen Verstandesbegriffen verwechselt worden sind, indem man bloß auf 
die allerdings stattfindende, durch die Natur der Sache nothwendige Aehn¬ 
lichkeit derselben mit den Verstandesbegriffen achtete, dabei jedoch übersah, daß 
die Verstandesbegriffe nichts mehr als bloße Analogien der Vernunftbegriffe 
sind und sein können. Durch die Verwechselung der Vernunft mit dem Verstande 
geschah es auch 1) daß man die Vernunft schlechtweg als das Streben nach 
Einheit aller Erkenntnisse, d. i. der Zurückführung derselben auf die 
möglich kleinste Zahl erklärte, woraus dann geschlossen wurde, daß die Vernunft 
mit Nothwendigkeit darauf ausgehe, den Dualismus des gewöhnlichen Men¬ 
schenverstandes zu vernichten, d. i. alle Wesenheitsverschiedenheit unter den Din¬ 
gen als einen bloßen Schein zu bezeichnen und das Eine und das All an 
die Spitze der Dinge zu stellen, wodurch dann der Pantheismus seine volle Be¬ 
gründung gefunden hätte. Allerdings strebt die Vernunft, wie der Verstand, nach 
Einheit. Diese Einheit kann aber im Allgemeinen eine doppelte sein, ent¬ 
weder eine Einheit des Seins oder eine Einheit des Grundes: im ersten 
Falle würde das Streben nach Einheit dahin gehen, alle in der Welt gegebenen 
Erscheinungen auf eine einzige gemeinschaftliche Substanz, im zweiten. 
sie auf einen einzigen gemeinschaftlichen Grund zurückzuführen. Nach 
der ersten Einheit strebt die Vernunft keinesweges, gegentheils wird sie durch 
die Contradiction der Erscheinungen absolut genöthigt, auf eine contradictorische 
Verschiedenheit der ihnen unterliegenden Wesenheiten zu schließen: wohl aber 
strebt die Vernunft nach der zweiten Einheit, und sie erreicht sie wirklich da¬ 
durch, daß sie alle in der Welt gegebenen Erscheinungen und Substanzialitäten 
als bedingt, d. i. als zwar seiend, aber als seiend durch Anderes denken muß, 
wodurch sofort der Schluß auf ein unbedingtes Sein, welches sowohl den 
Grund seines eigenen Seins, als den eines jeden fremden Seins enthält, 
ofort nothwendig wird. — Durch die Verwechselung des Verstandes mit der 
Vernunft geschah es 2) daß man nach dem Vorgange früherer Pantheisten auch 
Max-Planck-Institut für Bildungsforschun
	        
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