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Max-Planck-Institut für Bildungsforschung
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Einleitung.
auf sich selbst wenigstens so viel Sorgfalt zu verwenden, daß sein Anblick dem
Kranken nicht unangenehm sei; bei Geisteskranken hat er, um ihnen Achtung
einzuflößen, diese Sorgfalt zu verdoppeln. Doch ist die Physiognomik noch weit
davon entfernt, im Besitze allgemeingültiger Principien zu sein und so den großen
Hoffnungen ihres oben erwähnten neuen Begründers zu entsprechen; jedenfalls
muß die Physiognomik, wenn sie nicht aller wissenschaftlichen Grundlage entbehren
soll, von einem gründlichen Studium der Anthropologie sowohl in somatischer,
als in psychischer Hinsicht ausgehen. Niemals darf sie vergessen, daß zwar aller¬
dings der Geist (insbesondere die Einbildungskraft) auf die Bildung und Gestal¬
tung des Körpers großen Einfluß hat, daß aber auch gewisse Bildungen des
Körpers und vorzüglich des Gesichtes eben sowohl in äußeren, als in inneren
Umständen und Veranlassungen ihren Grund haben können. Auch kommt als
Hülfsquelle der Psychologie in Betracht 3) die Physiologie d. i. die Natur
wissenschaft des menschlichen Leibes oder die physische Anthropologie, welcher sich
die Psychologie in denjenigen Fällen zu bedienen hat, wo gewisse Aeußerun¬
gen der menschlichen Seele zu erklären sind, welche zuletzt in der Natur und
der Beschaffenheit des menschlichen Körpers ihren Grund haben. Doch gibt es
der Fälle nur wenige, in welchen sich die Psychologie bei der Physiologie Rathes
erholen muß, und es beschränken sich diese Fälle, wenigstens größtentheils, auf
die Functionen des niederen, gleichsam bloß thierischen Seelenlebens, wie denn
auch umgekehrt die Physiologie oft in die Lage kommt, bei der Psychologie Be¬
lehrung zu suchen, und wie es überhaupt wohl keine, so in sich selbst abge¬
schlossene Disciplin gibt, die nicht in einzelnen Fällen außerhalb ihres eigenen
Gebietes Nachhülfe suchen müßte. Auch ist es eine ganz irrige Vorstellungsweise,
daß die psychologischen Erscheinungen dadurch im eigentlichen Sinne einge¬
sehen und begriffen würden, daß man sie mit den damit zusammenhan¬
genden physiologischen Lehrsätzen in Verbindung bringt. Es ist somit unrichtig,
die Physiologie eigentliche Quelle der Psychologie zu nennen, oder zu be¬
haupten, daß die Physiologie der Psychologie nothwendig vorangehen müsse.
Noch könnte bemerkt werden, daß man in der neuern Zeit angefangen hat, auch
die Psychologie nach Art der Physiologie, d. i. die Verrichtungen der Seele gleich
denen des Körpers zu behandeln, worüber man sich wegen der hier zu Grunde
liegenden materialistisch-monistischen Ansicht nicht wundern kann.
Auch hat man in der neuesten Zeit sogar die Mathematik eine Quelle
der Psychologie genannt. Die Bemerkung nämlich, daß unsere Vorstellungen sich
drängen und bekämpfen, daß sie sich im Bewußtsein emporarbeiten und wieder
unterdrückt werden, daß sie steigen und fallen und niemals einen festen Stand
halten, brachte Herbart auf den Gedanken, eine Bewegungslehre der Vor¬
stellungen analog der Mechanik der Körperwelt aufzustellen. Aber auch ange¬