Dichtungsvermögen. Willkürliche Dichtungen. § 50.
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wie uns auch ein Machwerk darum noch nicht als schön gilt, weil es der Natur
getreu nachgebildet ist, weil z. B. die Vögel davor erschrecken: nur der
Nichtkenner verlangt von dem Kunstwerke diese Natürlichkeit, um es gleich einem
Naturdinge, welches er auf dem Markte findet, auf eine natürliche, oft rohe und
gemeine Weise genießen zu können *). Hiebei besteht jedoch, daß die Dichtung
mit der Vorstellung derjenigen Menschen übereinstimmen müsse, wofür sie bestimmt
ist. Dem Dichter steht es frei, Himmel und Hölle, Engel und Teufel, Feen und
Hexen sinnlich darzustellen: aber er muß den gewöhnlichen Vorstellungen, An¬
sichten und Meinungen über diese Gegenstände wenigstens insofern treu bleiben,
daß diese sich in seinem Bilde wiederfinden. Wo er aber aus guten Gründen in
einigen Punkten davon abweicht, da muß er erwarten dürfen, daß diese Abwei¬
chung von dem Gebildeten nur für eine Verbesserung und Berichtigung seiner
frühern Vorstellung gehalten werden könne. Wenn daher auch die Dichtung der
Wirklichkeit so nahe als möglich kommen muß, so darf sie dieselbe doch nicht
erreichen, d. h. sie darf ihren Gegenstand nicht so darstellen, daß er sich von einem
wirklichen, in der Natur befindlichen Gegenstande, z. B. von wirklichen Menschen oder
Thieren, in nichts unterscheiden ließe**). Dieses wäre keine Illusion, d. i. keine
olche Täuschung, die unter Umständen sogar ein Wohlgefallen erregen kann und wirk¬
lich da ein Wohlgefallen erregt, wo es sich nicht um eine objective Wirklichkeit, sondern
um die Beschaffenheit und das leichte Spiel der Vorstellungen unserer Einbildungs¬
kraft handelt; sondern es wäre ein wirklicher oder doch ein beabsichtigter Be¬
trug, der immer unangenehm oder sogar beleidigend ist, es sei denn, daß der
Betrug offenbar vorliegt, wie bei Taschenspielern, wo dann aber auch von ei¬
gentlichem Betruge nicht Rede sein kann. Aus dem Gesagten ergibt sich von
selbst, was poetische Wahrheit sei und was dazu gehöre: sie besteht in
nichts Anderem, als in der inneren Consequenz oder in der vollkommenen Ueber¬
einstimmung des ganzen Kunstwerkes mit sich selbst. Nur insofern ist der be¬
kannte Ausspruch des Horaz richtig: ficta sint proxima veris (ad Pison. V. 338).
Von dem Kunstwerke wird insbesondere Schönheit gefordert: die vollendete
Schönheit des Kunstwerkes besteht aber weder in der bloßen regel= und kunst¬
gerechten Durchführung aller seiner Theile, noch in der bloßen harmonischen
Uebereinstimmung aller einzelnen Theile zu einem lebendigen Ganzen, sondern
es wird vom schönen Kunstwerke verlangt, daß es der Ausdruck eines Lebendi¬
gen sei, welches, in seiner größten Volkommenheit erschaut, uns selbst in die le¬
*) Vgl. Goethe: Ueber Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke. Werke. Aus¬
gabe von 1849. Band XXX. S. 391 ff.
**) Sehr richtig sagt daher Schiller in seinem Gedichte an Goethe:
Der Schein soll nie die Wirklichkeit erreichen;
Und siegt Natur, so muß die Kunst entweichen.
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Max-Planck-Institut für Bildungsforschung
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