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2. Quelle der Psychologie. § 2.
zwischen den thierischen und den menschlichen psychischen Kräften gebe, wie ja
Herbart es geradezu als unerlaubt ansah, zu behaupten, die Vernunft sei der
allgemeine angeborene Vorzug des Menschen vor dem Thiere: nur darum könne
das Thier die menschliche Ausbildung nicht erreichen, weil es ihm an Sprache
und Händen fehle und weil es durch Körpergefühle mehr beherrscht werde,
als der Mensch *). Doch ist jene Behauptung im Systeme des Monismus unver¬
weigerlich. Dann kommt als Hülfsquelle der Psychologie in Betracht 2) die
Physiognomik, d. i. die Kunst, aus dem Aeußern des Menschen, hauptsächlich,
obgleich keinesweges einzig, aus den Gesichtszügen dessen Inneres zu erschließen.
Auch hat man, jedoch ohne sonderlichen Erfolg, neuerdings angefangen, die
Physiognomik nicht bloß auf Thiere, sondern sogar auf Pflanzen anzuwenden. Man
könnte ein doppeltes System der Physiognomik unterscheiden, eines, welches aus der
Beschaffenheit der Gesichtszüge, ein anderes, welches aus der Gestaltung des
Schädels, besonders aus den Erhabenheiten und Vertiefungen desselben, seine
Menschenkenntniß entnehmen will. Dort haben wir die Lavater'sche, hier haben wir
die Gall'sche Theorie. (Schädellehre, Kranioskopie). Die Physiognomik gehört vorzüg¬
lich der neueren Zeit an; die größte Ausbildung erhielt sie durch Johann Caspar
Lavater, welcher sogar der Hoffnung Raum gab, daß man sich derselben bei
Gerichten in Criminalsachen einst mit dem größten Nutzen bedienen werde. Die
Sache selbst kannte man indeß schon im Alterthume**), wie es denn überhaupt
nicht zu verkennen ist, daß sowohl die actuelle als die habituelle geistige und
gemüthliche Verfassung in dem Aeußern des Menschen sich ausspricht. Darum
war es den Alten, wie Plutarch, Sallust, Tacitus, Velleius Paterculus, Sueton,
da wo sie uns welthistorische Personen vorführen, fast Bedürfniß, uns auch mit
dem Aeußern dieser Menschen, oft sogar bis ins Einzelne hin, bekannt zu ma¬
chen, wobei es unwidersprechlich ist, daß sie sich weit mehr, als wir Neueren, auf
diese Kunst verstanden***). Ueberhaupt treiben alle Menschen mehr oder weniger
Physiognomik, ohne es zu wissen und zu wollen. Der erste Eindruck, den ein
Mensch auf uns macht, ist es besonders, nach welchem wir ihn beurtheilen, und
dieser ist oft entscheidend für das ganze Leben. Darum ist es von der einen Seite
o wichtig, auf den ersten Eindruck nicht ein gar zu großes Gewicht zu legen,
von der andern Seite aber auch nothwendig, auf den eigenen Ausdruck sehr
Acht zu geben, wenn man sich das Vertrauen, die Achtung, die Zuneigung
anderer Menschen erwerben will. Für den Arzt ist es namentlich sehr wichtig,
*) Vergl. Herbart Lehrbuch zur Psychologie. Königsberg 1816. S. 188.
**) Vergl. die schöne Stelle bei Cic. de Legg. I, 9. dazu Ernesti Init. solid. doctr. pag. 170.
***) S. Sueton. Vit. Octavian. Aug. c. 79; Vit. Tiber. c. 68. Vergl. C. G. Carus Sym¬
bolik d. menschl. Gestalt. Leipz. 1853 u. die Bemerkungen darüber von Carriere in den Blätt.
für litt. Unterhalt. 1853 N. 32. S. 745 ff.
Max-Planck-Institut für Bildungsforschung