Full text: Psychologie. ¬Die Lehre von dem Erkenntnißvermögen (Th. 1)

Max-Planck-Inst 
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für Bilc 
forschur 
1. Theil. Die Lehre vom Geiste. Einbildungskraft. 
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der Mitte seines Kahnes angebrachten Fischbehälter allmählich die Karpfen ver¬ 
chwanden, obgleich das an demselben befindliche Vorhängeschloß keine Spuren 
von Verletzung zeigte. Er schrieb daher den Diebstahl auf Rechnung falscher 
Schlüssel. Um den Dieb auf der That zu ertappen, sann er eine Art von Falle 
aus, welche denselben festhalten mußte. Erfreut über diese seine sinnreiche Idee 
legte sich Gaillard nieder und schlief bald ein. Allein wo erwachte er? In 
der Falle, die er selbst gestellt hatte. Nachtwandler, ohne es selbst zu wissen, 
stand er in jeder Nacht auf und setzte die Fische in Freiheit, welche er bei 
Tage gefangen hatte. Das Nachtwandeln setzt zweierlei voraus: 1) eine sehr 
große Stärke des Nervensystems von der einen, aber auch eine sehr große 
Schwäche desselben von der andern Seite, um sowohl die vielen schwierigen, 
oft gefährlichen Handlungen während des Schlafes vorzunehmen, als durch 
äußere fremdartige Eindrücke in demselben nicht gestört zu werden; 2) eine sehr 
große Stärke der reproducirenden, aber eine sehr große Schwäche der produ¬ 
cirenden Einbildungskraft, um sowohl das klarste und bestimmteste Bild alles 
dessen, worauf die Handlung geht, vor der Seele zu haben, als auch jede Vor¬ 
stellung fern zu halten, welche wegen ihrer Fremdartigkeit Unordnung in den 
Vorstellungen anrichten und die Sicherheit der Handlung stören müßte. Das 
Nachtwandeln fließt mit dem Traume aus gleicher Quelle und ist nur eine 
natürliche Fortsetzung desselben; denn so wie gegenwärtige Vorstellungen auf 
andere coexistirende Vorstellungen hinführen, so können sie auch auf solche 
Handlungen zurückführen, welche mit diesen Vorstellungen coexistiren, und 
die Seele ist dann auch von selbst bestrebt, diese Handlungen hervorzübringen, 
wenn sie anders der Seele zusagen, und wenn sie die natürliche Kraft des 
Menschen nicht übersteigen. Solche Handlungen übersteigen aber die natürliche 
Kraft des Menschen so lange nicht, als 1) die Einbildungskraft durch Repro¬ 
duction und Combination früherer Vorstellungen das Bild dafür schaffen kann, 
und als 2) die körperliche Kraft zur Vollführung der fraglichen Handlung aus¬ 
reicht. Hieraus ist von selbst klar, daß sich die Grenze derjenigen Handlungen, 
die im Traume möglich sind, positiv gar nicht bestimmen lasse. Daß auch 
hier die bloße Einbildungskraft wirke, ist, abgesehen davon, daß das Auge des 
Träumers fest geschlossen ist, also die Bedingung des Sehens fehlt, daraus of¬ 
fenbar, daß 1) der Träumende nichts von dem gewahr wird, was nicht in seine 
Associationen paßt, und daß er die verschiedensten Dinge auf Grund der ent¬ 
ferntesten Aehnlichkeit, z. B. eine Serviette mit einem Briefe, eine Flasche mit 
einem Leuchter verwechselt; daß 2) jedes, welches hart gegen die Phantasie des 
Träumers verstößt, z. B. ein ihm unbewußt vor das Bette gesetztes Becken kal¬ 
tes Wasser, in welches er mit den Füßen geräth, den Traum entweder unterbricht, 
oder den Träumer ganz aufweckt. Die größte Unordnung wird aber in den Vor¬
	        
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