Max-Planck-Institut für Bildungsforschung
1. Theil. Die Lehre vom Geiste. Innerer Sinn.
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wußtsein, indem die Wissenschaft nur dadurch entsteht, daß der Geist mit Frei¬
heit sich über die Fluth seiner Gedanken und über das gemeine Selbstbewußt¬
sein und dessen Inhalt stellt, seinen innern Lebensproceß beobachtend und for¬
schend in's Auge faßt, diesen gleichsam zum Stehen bringt, um ihn in seinen
Ergebnissen, Verhältnissen und Umständen bis zu seinem letzten Grunde hin, d. i.
aus seinem Urgrunde zu begreifen. Somit ist die Wissenschaft nichts Anderes,
als die die Thatsachen des gemeinen Bewußtseins begründende Reconstruction
oder die Theorie der ursprünglichen Thatsachen des menschlichen Lebens, zwar
anfangs Erfahrungswissenschaft, aber sehr bald darüber hinausgehend. So wie
das Selbst= oder Ichbewußtsein in der Entfaltung des menschlichen Bewußt¬
seins am spätesten hervortritt, so geht es auch am spätesten unter, wie sich
dieses da herausstellt, wo das Ichbewußtsein des im Sterben begriffenen Men¬
schen noch in der völligsten Klarheit und Gegenwart sich zeigt, wenn die Empfin¬
dungen der einzelnen Sinne bereits aufgehört haben, und das Sinnenleben schon
ganz und gar in das Allgemeinere der Gemeinempfindung zurückgetreten ist.
Das Ichbewußtsein entschwindet in der Regel erst mit dem Entschwinden der
Gemeinempfindung und mit dem Unvermögen der Wiederherstellung derselben
von Seiten der Seele, d. h. das (menschliche) Ichbewußtsein hört auf, wenn
die Leiblichkeit, woran die Gemeinempfindung und alle Sinnesthätigkeit gebun¬
den ist, die Fähigkeit verloren hat, mit dem Geiste fernerhin ein Vereinwesen
zu bilden. Jetzt muß der Geist sich von dem Leibe trennen, und mit dem Auf¬
hören des Menschen selbst hört auch von selbst das menschliche Ichbe¬
wußtsein auf, wobei vollkommen besteht, daß der Geist als selbstprincipielle
Substanz auch mit Hinübernahme seiner früheren menschlichen Errungenschaften
als eine solche noch fortdauern und durch alle Ewigkeit fortleben kann.
b. Das Bewußtsein der Vorstellung.
§ 32.
Die Vorstellung, wodurch wir uns des Gegenstandes bewußt werden, ist
verschieden theils in Ansehung ihres Ursprunges, theils in Ansehung ihrer gro¬
ßern oder geringern Vollkommenheit.
In Ansehung ihres Ursprunges ist die Vorstellung entweder eine
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unmittelbare, d. i. eine Vorstellung durch den äußern oder durch den innern
Sinn, oder sie ist eine mittelbare, d. i. eine Vorstellung durch Einbildungs¬
kraft, bezüglich durch Erinnerung. Im ersten Falle ist und heißt das Bewußtsein
ein unmittelbares; im zweiten Falle ist und heißt das Bewußtsein ein
mittelbares. So ist das Bewußtsein des Baumes, den ich jetzt sehe, ein un¬
mittelbares; das Bewußtsein des Baumes, den ich gestern sah, ein mittelbares.