Vereinigung der Sinne. § 23.
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Vereinigung der einzelnen Sinngebiete zu einer einzigen Außenwelt.
§ 23.
Die fünf Sinne des Menschen bilden ein Ganzes: sie sind Zweige eines
Stammes und nur besondere Wirkungsweisen der sich in allen wiederholen¬
den äußeren Anschauungskraft. Zwei dieser Sinne, Gesicht und Gehör, sind
Sinne der Ferne, zwei derselben, Geruch und Geschmack, sind Sinne der Nähe;
zwei dieser Sinne, Gesicht und Geschmack, sind Sinne der Dauer, zwei derselben
Gehör und Geruch, sind Sinne des Wechsels. Dabei ist der Gefühlssinn gleich¬
am die Zusammenfassung aller Sinne; er ist der allgemeine Sinn, der auf all¬
gemeine Weise Alles vorstellt, was sich den übrigen Sinnen in einer modificir¬
ten Weise zu erkennen gibt. Die Sinne der Ferne und die der Nähe unterschei¬
den sich wesentlich dadurch 1) daß Gesicht und Gehör nur das fortgepflanzte
Licht und den fortgepflanzten Schall auffassen, die beide ursprünglich in größe¬
rer oder geringerer Entfernung erregt werden, daß dagegen Geruch und Ge¬
schmack eine unmittelbare Berührung des Organs durch ihren Gegenstand ver¬
langen; 2) daß dort der Apparat gegen eine unmittelbare Reizung geschützt.
diese aber hier nothwendig ist; 3) daß dort der Apparat mehr dazu dient, den in
der Ferne gebildeten Reiz bis zum eigentlich empfindenden Theile des Organes fort¬
zuleiten, wogegen er hier mehr dazu dient durch Verbindung des Organs mit dem
Gegenstande diesen Reiz zu erzeugen. Die Licht= und Schallschwingungen eristiren
an sich schon, ehe sie mit dem Auge oder mit dem Ohr erfaßt werden; Geruch und Ge¬
schmack bilden sich erst in dem Momente, wo der Gegenstand den zur Hervorrufung
der Empfindungen dieser Sinne nothwendigen chemischen Prozeß eingegangen ist
Dabei sind Geruch und Geschmack weit mehr der Macht und Freiheit des Indivi¬
duums übergeben, als Gesicht und Gehör: das geöffnete Auge oder Ohr muß
das Licht oder den Schall empfinden, wogegen es bei dem Geruche überwiegend
in unserer Macht steht, den einzelnen Gegenstand zu wählen und zu bestimmen.
und bei dem Geschmack ist die Willkür hinsichtlich dessen, was wir auf die
Zunge bringen wollen, noch größer. Außer diesen fünf Sinnen läßt sich kein an¬
derer mehr denken: sie sind vollständig hinreichend, um alle Geheimnisse der Na¬
tür zu ergründen und aufzuschließen, und es sind alle Unterschiede darin berück¬
ichtiget, die sich überhaupt nur denken lassen. Jeder dieser Sinne liefert dem
Menschen vermittelst eines eigenthümlichen Organs seine eigenthümlichen Gegen¬
stande: sie entsprechen den verschiedensten Wirkungsweisen der Natur und ihre
Wahrnehmungen sind nur Wiederholungen jener Thätigkeiten. Zwar ist eine ge¬
wisse Aehnlichkeit unter den Empfindungen verschiedener Sinne nicht ganz in
Abrede zu stellen, wie man auch wohl die Empfindung des Trompeten¬
schalles mit der rothen Farbe, die des Flötentones mit dem sanften Blau des
Max-Planck-Institut für Bildungsforschung