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regeln zum Ausdruck kommt, hat den Nachteil, daß den Maximalwerten nicht angemessen
Rechnung getragen wird. Während das Interviewverfahren auf die Obergrenze der
moralkognitiven Leistungsfähigkeit zielt, tendiert das Verfahren zur Ermittlung von
aggregierten Stufenwerten dahin, diese oberste Leistungsgrenze zugunsten von Modalwerten
zu unterschlagen. Unsere Analysen zeigen, daß beim Aggregationsprozeß Maximalwerte von
Personen in nicht unerheblichem Ausmaß neutralisiert werden. Um den Maximalwerten
besser gerecht zu werden, müßte sich die Bestimmung von globalen Kompetenzmaßen an
schwächeren Kriterien orientieren. Wie die entsprechenden Kriterien festzulegen sind, ist eine
schwierige Frage. Wir haben bis jetzt keine zufriedenstellende Antwort gefunden.
Die von uns ermittelten Ergebnisse lassen zum anderen Kohlbergs Bestimmung von Postkon-
ventionalität fraglich erscheinen. Daß die Anteile postkonventioneller Stufen nicht nur bei den
Form-Werten, sondern auch bei den Issue- und CJ-Werten insgesamt recht niedrig sind, ist
auch Ausdruck einer problematischen theoretischen und operationalen Definition von Post¬
konventionalität bei Kohlberg .Wir haben in Kapitel 2.1 zu zeigen versucht, daß einige der
von Kohlberg als konventionell eingestuften Cls im Manual postkonventionelles Denken zum
Ausdruck bringen. Der relativ geringe Gesamtanteil postkonventioneller Stufen auf der Ebene
der Issue- und Form-Werte ist also nicht nur auf die Neutralisierung von postkonventionellen
CJ-Werten durch den Prozeß der Aggregation zurückzuführen, sondern auch auf eine
problematische Konzeptualisierung postkonventionellen Denkens. Während die
Stufenbestimmungen postkonventionellen Urteilens die Anzahl der kodierten
postkonventionellen CJs schon stark einschränken, haben die Verrechnungsregeln zur Folge,
daß der Anteil postkonventioneller Werte weiter reduziert wird. Um den postkonventionellen
Urteilskompetenzen besser gerecht zu werden, ist es notwendig, Postkonventionalität neu zu
bestimmen und den Anteil postkonventioneller CIs im Manual zu steigern. Wir teilen damit
die Intentionen von Autoren wie Snarey und Shweder, gehen jedoch bei der Neubestimmung
der postkonventionellen Stufen einen anderen Weg.
3.2.2 Intraindividuelle Konsistenz der Stufenwerte
Von Kohlberg und den an ihm orientierten Autoren wurde die Frage nach der
intraindividuellen Konsistenz der Stufenwerte bislang kaum gestellt (vgl. Boyes & Walker
1988; Eckensberger, 1995). Allein für die CJ-Werte wurden Annahmen über die
Stufenkonsistenz formuliert und empirische Analysen durchgeführt. Hypothesen und
Untersuchungen zu den Issue-Werten fehlen (s. aber Teo, Becker & Edelstein, 1995).