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lungen ohne Ehescheidung mehr gibt, so haben sie üben
gelernt, was sie so oft gehört." (de benef. l. III. 16.) Die
Scheidung ist also kein Heilmittel für die Leidenschaft,
sondern nur ein fürchterliches Gift in die Wunde der
Familie und Gesellschaft.
Oder glaubet ihr etwa, unsere Zeit habe das nicht
zu fürchten? Kann es, wie Juvenal von den Römern
schreibt, heute keine Männer mehr geben, welche keine
Frau, sondern nur ein Gesicht suchen. Hat dieses drei
Runzeln, werden die Zähne dunkler und die Augen kleiner,
heißt es gleich: „Schnüre das Bündelchen und geh'."
(Satyra 6, v. 142.)
Oder wird etwa die Leidenschaft die Schranken der
sittlichen Ordnung heute nicht so weit durchbrechen?
Beherziget folgendes: Wenn auch das ganze öffentliche
Leben von Christus abgewichen ist, so zehrt es doch heute
noch von der Wahrheit und dem Geiste Christi, wie auch
der verlorene Sohn in Ausschweifungen die väterliche
Erbschaft verschleuderte. Aber warket nur, bis dies christ¬
liche Erbgut ganz aufgezehrt ist und mit ihm die letzte
Scham und Schen verloren und das begierliche Fleisch
in den vollkommenen Besitz seiner vermeintlichen Rechte
gelangt ist, dann könnt ihr Dinge hören und sehen, daß
euch Sehen und Hören vergehen wird.
Schon vor 30 Jahren zählte man in Preußen jähr¬
lich 5000 Ehescheidungsprozesse, ebensoviel gab es in den
Vereinigten Staaten Amerikas; schon vor 30 Jahren
bildeten sich dort Genossenschaften der freien Liebe, wo¬
man die Ehe nach Belieben schließt und auflöst und die
Kinder der Gemeinde übergibt; dort blüht die Sekte der
Mormonen mit ihrer Vielweiberei.
Doch was rede ich vom Auslande. Stehen wir nicht
vor der thränenreichen Thatsache, daß unser Vaterland in
Sachen der Ehescheidungen in wenigen Jahren alle andern
Sigitalisierungsvorlage:
Erzbischöfliche Diözes:
Max-Planck-Institut für Bildungsforschung
nd Dombibliot
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