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und Blumen!) (Anthemien), den Haaren entsprechend angeordnet,
und führten am ganzen Stamm Streifen herab, wie die Falten der
Gewänder nach Frauenart. 8. Die Späteren aber, an gewähltem
und feinem Urtheil vorgeschritten, und an schlankeren Maßen Ge¬
schmack findend, bestimmten sieben Dickendurchmesser für die Höhe der
dorischen, neun für die der ionischen Säule. Jene Ordnung aber,
welche die Jonier zuerst in's Werk setzten, wurde die ionische ge¬
nannt. Die dritte aber, welche die korinthische heißt, enthält die
Nachahmung der jungfräulichen Schlankheit, weil die Jungfrauen,
wegen der Zartheit ihres Alters aus schlankeren Gliedern gebaut, im
Gewandschmucke eine reizendere Gesammtwirkung haben.
9. Die erste Erfindung eines solchen Capitäls aber wurde
wie erzählt wird — auf folgende Weise gemacht. Eine Bürgers¬
tochter aus Korinth, bereits heirathsfähig, wurde krank und starb;
nach ihrem Leichenbegängniß sammelte die Amme die Spielsachen,
an denen sich das Mädchen bei Lebzeiten ergötzt hatte, legte sie zu¬
sammen in einen Korb, trug diesen zu dem Grabmal, stellte ihn oben
darauf und deckte ihn, damit sich die Sachen länger, als unter freiem
Himmel, erhielten, mit einer Dachplatte zu. Jener Korb war nun
zufällig über eine Akanthoswurzel (Bärenklau) gesetzt worden; da
trieb die vom Gewichte gedrückte in der Mitte befindliche Akanthos¬
wurzel um die Frühlingszeit Blätter und Stengel, und ihre Stengel,
an den Seiten des Korbes emporwachsend und von den Ecken der
Dachplatte durch den Druck der Last hinausgedrückt, wurden ge¬
zwungen, nach außen hin Schneckenwindungen zu bilden. 10. Da
bemerkte Kallimachos 2), der wegen der Gewähltheit und Feinheit
*) Ich bin weit entfernt, unter den encarpa Fruchtgehänge zu verstehen,
wie sie erst Michel Angelo an den ionischen Capitälen einzuführen für gut fand.
Wahrscheinlich sind hier die Blumen gemeint, welche die Winkel durch Voluten
an der Stirnseite auszufüllen und die Verbindung mit dem Wulste herzustellen
bestimmt sind, denn die mit dem Wulste parallel laufende Perlenschnur dürfte
noch weniger mit dem Namen encarpa bezeichnet worden sein.
2) Wahrscheinlich von Athen, Bildhauer, Architekt, Toreut und vielleicht
auch Maler, lebte um Ol. 93, in welche Zeit seine goldene Lampe für das
Erechtheion gehört. Seine Zeit stimmt mit dem Auftreten der korinthischen
Ordnung, wenn aber auch die Ausbildung dieses Styls dem Künstler zuzu¬