M. VITRUVIUS P. BAUKUNST.
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Berge übersähen. Keine wirkliche, sondern eine herrlich gemahlte idea¬
lische Landschaft — formam ad eximiam pulchritudinem pictam — wür¬
den Sie vor Augen zu haben glauben: So viel Mannichfaltigkeit und
Mahlerey — descriptio — ergötzt den Blick überall, wo er hinfällt.
Das Landhaus, das unten am Fusse eines Hügels liegt, hat eine
Aussicht, als ob es oben auf der Spitze stände; denn die Anhöhe erhebt
sich so sanft und allmählig, dass man getäuscht wird, und sich oben be¬
findet, bevor man noch gemerkt hat, dass man aufsteige. Im Rücken
hat es den Apennin, aber ziemlich entfernt. Von daher wehen auch
beym heitersten, stillsten Wetter Lüfte, jedoch sind sie weder scharf, noch
ungestüm; sondern der Weite des Weges wegen, matt und gelinde. Gröls¬
ten Theils sieht es gen Mittag: Um sechs Uhr m) Sommers, Winters etwas
früher, ladet es, so zu sagen, die Sonne in einen breiten und verhältnils
mässig langen Säulengang — porticus— ein. Es hat viele Abtheilun¬
gen — membra, — worunter auch ein Hof — atrium — ist, nach Sitte
der Alten 2).
°) Vor dem Säulengange ist ein offener Spaziergang — xystus¬
in verschiedene Beete — species — getheilt, die mit Buchsbaum einge
m) d. i. zu Mittage.
n) d. i. nach der Sitte der alten Tuscier oder Etrusker. Was unter einem
Toskanischen Hofe zu verstehen sey, lehrt Vitruv im dritten Kapitel des
vorhergehenden Buchs.
o) Obige Beschreibung eines Römischen Gartens ist die einzige, die auf uns ge¬
kommen ist.
„Es wurde lange, ehe die Gartenkunst ausgebildet wurde. Die berühmten schwe¬
benden Gärten der Babylonier waren unstreitig Obst- und Küchengärten. Sie
bestanden aus künstlichen Erhöhungen, die unten auf Pfeilern ruheten, oben aber in
dem aufgetragenen Erdreich mit Bäumen bepflanzt, in verschiedene Absätze vertheilt, und
durch eine Wasserkunst befeuchtet wurden. So waren eben auch die gerühmten Gär¬
ten oder Paradiese der Perser wahrscheinlich nur Fruchtgärten. Selbst bey den
Griechen bekamen die Gärten noch keine Vollkommenheit, und sie wurden theils
mit Obstbäumen, theils mit hohen schattigen Platanen bepflanzt, um darunter umher
zu gehen, und waren bisweilen mit Statüen geschmückt, sonst aber hatten sie weder eine
sorgfältige Anlage, noch einige Abwechselung und Zierde. Erst bey den Römern
erreichte die Gartenkunst ihre Höhe. Dieses Volk fing an schon in den letzten Zeiten
der Republik den Luxus aufserordentlich zu lieben, und dieser musste sich, so wie überall,
auch in den Gartenanlagen zeigen. Ihre Liebe zum Landleben verursachte, dass sie
ficht nur Gärten nahe bey der Stadt anlegten, sondern auch ihre Villen und Landgüter