M. VITRUVIUS P. BAUKUNST.
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nenwenden und den Lauf der Gestirne, ohne deren Kenntniss nie-
mand die Theorie der Uhren inne haben kann.
Da nun die Baukunst mit so vielen und mancherley Kenntnis-
sen so in der Fülle ausgeschmückt ist; so glaube ich nicht, dafs sich
leicht jemand anders mit Recht für einen Baukünstler ausgeben könne,
als der, so von Kindheit auf alle diese Stufen des Wissens betreten
hat, vertraulich mit den verschiedenen Wissenschaften und Künsten
erzogen worden und also zum höchsten Gipfel — ad summum ten¬
plum — der Baukunst gelangt ist.
Vielleicht aber mögen Unerfahrene sich wundern, wie es möglich
sey, dass Eines Menschen Verstand und Gedächtnifs zureiche, eine so
grosse Menge von Kenntnissen zu fassen. Inzwischen, wenn sie er-
wägen, dass alle Wissenschaften unter einander in Verbindung und
Gemeinschaft stehen, so werden sie die Möglichkeit leicht einsehen,
Der Inbegriff der sämmtlichen Wissenschaften — Encyclios disciplinae
ist gleichsam Ein Körper, der aus so vielen Gliedern besteht. Wenn
man nur von den zartesten Jahren an gehörig in den mannichfaltigen
Gattungen der Gelehrsamkeit unterrichtet ist,
so fasst man die Merk¬
mahle der Ähnlichkeit, und die zarten Fäden,
welche sie unter einan¬
der verknüpfen, bald auf, und begreift sie daher alle sammt und sonders
desto leichter.
Es behauptet zwar der alten Baukünstler Einer, Pythius, *)
der zu Priene den Tempel der Minerva mit so vielem Ruhme er¬
bauet hat — in seinen Schriften: „Ein Baukünstler müsse in jeder
der sämmtlichen Künste und Wissenschaften mehr vermögen, als dieje¬
nigen, so sich auschliefslich auf irgend ein einzelnes Fach gelegt und
darin sich durch ihren Fleiss und Eifer zu Meistern gemacht haben.“
Allein dieses ist wohl eine grundlöse Behauptung. Ein Architekt darf
1) Unten Buch VII., Vorrede, wird er Phileos genannt.