Full text: Genelli, Hans Christian: Exegetische Briefe über des Marcus Vitruvius Pollio Baukunst an August Rode

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neren Tempel zu Pästum bemerkt haben. Hinter diesem Unterbau lief in derselben 
Höhe längs der Rückwand eine Gallerie auf Säulen und um auf sie herauf zu ge- 
langen, war kein andres Mittel, als vermögel der Windeltreppe, die, wie der Autor 
berichtet, bis auf das Dach hinauf führte, und welche folglich hinter der Zelle an- 
gebracht war. Völkels Abhandlung über diesen Tempel ist mir gänzlich unbe¬ 
kannt, und ich weiss also nicht ob er meiner Erklärung entgegen ist, oder 
nicht. 
Von dem Inneren dieser Tempelgattung sagt Vitruv: „Das Naos bleibt ohne 
Dach, bekömmt aber inwendig einen Gang von zwey übereinander folgenden Sau¬ 
lenreihen, und von beyden Seiten sowohl in den Pronaos als an der Rückmauer 
— in postico — führen Thüren hinein.“ Aus diesen Worten nun glauben: seine 
Ausleger auf zwey Pronaen an den entgegengesetzten Seiten schliefsen zu dürfen 
aber augenscheinlich blos, weil sie das Pronáos nur als ein Prunkstück vor dem Ein¬ 
gang ansehn, welches keine andre Bestimmung haben söll, als den Zugang zu dem 
vornehmen Gotte zu verlängern; welches doch schnurstraks mit der Einfalt streitet, 
welche bey der Erfindung der Tempelformen obgewaltet hat. Allein, aulser dem, 
was ich gleich Anfangs angefuhrt — da ich nicht begreife was das Pronaos hinter 
der Gottheit zu schaffen habe — bin ich vielmehr durch diese seine Worte darauf 
geführt, gerade entgegengesezt nur auf ein einzelnes Pronaos zu schlielsen; eben 
weil er nur Eins nennt. Hätte er auch nur im geringsten an zwey Pronaen ge 
dacht; hätte er dann nicht sagen müssen „sowohl vorn als hinten sind Pronaen 
welche durch Thüren in das Naos führen? Bey jeder Verlegenheit uber die Nach- 
lässigkeit des Textes klagen, ist freylich ein leichtes Mittel die Materie auf die Seite 
zu schieben. Aber wo beschreibt Vitruv so nachlässig? Er unterlälst wohl manch¬ 
mal zu beschreiben, was wir gern von ihm erfahren mögten, weil er gerade nicht 
für uns geschrieben hat; aber sehen wir seine Worte genau an; so werden wir 
gestehen müssen, dass er richtig beschreibt, was er sich nur vornimmt: und wo wir 
seine Worte gar nicht verstehen, da bliegt es daran, dass wir keine Rômer sind 
Wir dürfen aber nicht übersehen, dass er hier nur von einem Pronaos spricht; und 
durch den ganzen übrigen Text sehen wir, glaube ich deutlich, dals, wo wir an 
einem alten Tempel etwas dem Pronaos ähnliches an der hintern Seite erblicken, 
wir es als eine Ausnahme von der Regel anzusehen haben, die durch besondre Um- 
stände veranlasst worden.. 
IS 2 
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buri2 
Sehe 'ich jezt zur Aufklärung meiner Zweifel mich um nach Überbleibseln von 
wirklichen Hypäthren, so finde ich deren drey: den grösseren Tempel zu Pästüm, 
der aber in so vieler Rücksicht wider die Regel ist, dass er durchaus nicht zur
	        
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