Full text: Genelli, Hans Christian: Exegetische Briefe über des Marcus Vitruvius Pollio Baukunst an August Rode

Ein Beyspiel dieser ersten Tempelgattung unter den bis auf uns erhaltenen 
Ueberbleibseln aufzuweisen, wird immer etwas mislich bleiben: denn da die Form 
dieser Gattung in den folgenden immer wiederkommt, so kann man, da wo sie auch 
ganz entblöfst erscheinet, inimer nicht mit Gewisheit entscheiden, ob sie nicht der 
Kern eines größsern Tempels war, wenn anders nicht ihr Giebel noch unzweideutig 
erhalten ist: ob wir gleich an den meisten Tempeln die Mauern mehr zerstört sehn 
als die Sänlenstellung. Jedoch, wenn man sich nur auf die Rilse des Houel einiger 
masen verlasen kann, so dürfen wir den Tempel Askulaps zu Agrigent hier als 
Beyspiel eines Tempels in antis anführen. *) An der Hinterfronte hat er zwischen 
den beyden Eckpfeilern zwey halb eingemauerte Säulen welche das Bild der Vorder 
fronte nachahmen, und ist übrigens ungefähr um ein Viertel der Breite länger, als 
ihn Vitruv bestimmt, welches aber wohl daher rührt, weil zwischen dem Naos und 
Pronaos Treppen angebracht sind, die auf das Dach führen. Solcher Treppen er¬ 
wähnt Vitruv nirgends; an den übrig gebliebenen griechischen Tempeln hingegen 
finden wir sie so oft wieder, dass sie was Gewöhnliches gewesen zu seyn schei 
nen. Die Griechen machten ihre Tempel durchgängig so viel länger als er, dals 
sie leicht der Raum zu dergleichen Treppen erübrigen konnten, und Vitruv mogte 
sie wohl nur bey sehr grossen Tempeln für erforderlich erachten, wo man leicht 
s0 viel Raum von der Tiefe der Nachzelle und des Pronaos entrathen konnte, ohne 
ihre Verhältnisse merklich zu stören. So viel scheint mir gewils, dals er sich die 
erste Gattung eher in kleinen Dimensionen gedacht hat, und die folgende immer 
gradweis wachsen läfst. 
Die erste und einfachste Erweiterung dieser ursprünglichen Form der Tempel 
bestand darin, dass man vor dem Pronaos noch eine freye Säulenreihe stellte, so 
dass die Architrave von dem Eckpfeiler noch weiter hervor bis hin auf diese Saulen¬ 
reihe gestreckt wurden. **) Vitruv nennt nämlich hier, wie Sie selbst schon sehr 
richtig bemerkt haben, die epistylia im Plural darum, weil er unter den einzelnen 
jedes besondre Stück der Architrave denkt; welches als ein eigener Block von der 
Axe einer Säule bis zu der nächsten reicht: und daher sagt er denn, dals diese Gat- 
tung äusser den vordern Epistylien, um jede Ecke herum, noch eines verlange — 
nämlich von der vordern Ecksäule, bis auf die hinter ihr befindliche Parastata. Im 
Allgemeinen heifst Epistylium, was die obere Bekränzung oder Krönung der Säulenstel¬ 
*) Ein andres Beyspiel sieht man auf den antiquen Plane von Rom, beym Piranese — Tom. I. Tab. 
IIII. fragment. 36. 
*) B. III. K. 1.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.

powered by Goobi viewer