Full text: Genelli, Hans Christian: Exegetische Briefe über des Marcus Vitruvius Pollio Baukunst an August Rode

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der nähern Beschreibung seines eigenen Jonischen Kapitells kommt nichts vor, 
was er mit diesem Namen belegte: derselbe muss folglich irgend etwas bezeichnen 
sollen, was am Kapitell nicht für unumgänglich nöthig gehalten wurde. Die mei¬ 
sten Ausleger beruhigen sich zuletzt mit einer buchstäblichen Uebersetzung des 
Wortes, und nennen das Ding Fruchtschnüre; allein wo wären nun solche 
angebracht gewesen, und wie? das bleibt immer noch die Frage. So windig und 
locker, wie unter den Neuern meines Wissens zuerst M. Angelo sie an seinen 
Kapitellen angebracht hat, konnten sie wohl nie in den Sinn eines Griechen kom¬ 
men: da selbst er augenscheinlich nur durch den missverstandenen Ausdruck Vi¬ 
truvs darauf gebracht worden ist. Auch hat man bis jetzt aus dem Alterthum 
noch kein solches Kapitell aufgefunden. M. Angelo bog seine vier Voluten auf 
den Diagonalen wie Hörner heraus, wodurch sein Kapitell vier gleiche Seiten be¬ 
kam, an welchen er gleichmässig die Fruchtschnüre in den Volutenaugen anheften konn¬ 
te: ein antikes Kapitell bot nur Platz für zwei an; und an einem Eck-Kapitell muls¬ 
ten ihrer gar drei kommen, die ziemlich breit über den Säulenschaft hätten her¬ 
unterhängen müssen. Und wie sollte in diesem Fall es nun dem Vitruv eingefal¬ 
len seyn, solches mit einer Stirnzierde oder einem Diadem zu vergleichen? Kurz, 
die Encarpi waren in der Tliat eine Kopfzierde. Da nehmlich die Jonier bei 
Ausbildung ihrer Ordnung sich einmal die weibliche Gestalt zum Vorbild gesetzt, 
und die Voluten auf der Stirn hervorgezogen hatten als zierliche Hauptlocken, 
zwischen welchen das Cymatium sich als Stirnbinde zeigte; so setzten sie noch ei¬ 
nen festlichen Kranz über dasselbe: grade so wie sie ihre Töchter geschmückt 
zum Tempel der Göttin gehn sahen. Und auch darauf könnte sie etwa eine noch 
frühere Tempelsitte gebracht haben, nehmlich die, einen ähnlichen Kranz zwischen 
den Henkeln oder Krallen des noch gefässartigen Kapitells durchzuwinden, der 
dann in der That wie eine durch die Henkel gezogene Trage oder Handhabe 
aussehn musste, und vielleicht eben daher technisch den Namen — Encarpos 
(von der Faust) erhalten hatte. 
Demzufolge ist das Encarpos ein rundes pfühlartiges Glied über dem Cy¬ 
matium, welches wie ein mit Bändern umwundener Blumenkranz behauen ist. Die¬ 
ses Glied kann nur auf den beiden Fronten des Kapitells sichtbar seyn, und ist 
mithin in zwei getheilt: daher der Plural — encarpi. — Der angeführte Dianentem¬ 
pel in Jonien hatte also solche Kapitelle, wie die an dem Jonischen Tempel auf 
der Burg zu Athen, und war der erste, an welchem dergleichen angebracht worden. 
Ausgemacht hingegen ist, dass die Encarpi an Vitruvs eigenem Kapitell nicht 
statt finden: in der Beschreibung desselben geschieht ihrer gar keine Erwähnung;
	        
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