Max-Planck-Institut für Bildungsforschung X 1. Theil. Die Lehre vom Geiste. Erkenntnißvermögen. 324 Worte zu denken, darum wird das lebendige Wort niemals durch die Schrift ersetzt, wie sich dieses bei allen unsern Autodidacten und noch weit mehr bei den Taubstummen zeigt. Sehr richtig ist daher und der größten Beherzigung wür¬ dig, was Goethe sagt: „Schreiben ist ein Mißbrauch der Sprache; stille für sich lesen, ein trauriges Surrogat der Rede.“ Indeß bedürfen wir dieses Sur¬ rogates nun einmal. Das gesprochene Wort, auch die gewaltigste Stimme des Redners, ist in die engsten Grenzen des Raumes und der Zeit gebannt, die Schrift triumphirt über Raum und Zeit, hier berühren sich die entferntesten Zeiten und Geschlechter, hier haben wir ein Mittel, um jeden Gedanken, jede Erfahrung zur allgemeinen Kunde zu bringen und alles, was Werth und Wich¬ tigkeit hat für den Menschen ungeachtet der mannigfaltigsten Stürme und Be¬ wegungen, denen die Welt und die Menschheit ausgesetzt ist, über den ganzen Erdkreis und über Jahrtausende zu verbreiten. Große Staaten sind untergegan¬ gen und die Trümmer, unter denen sie begraben liegen, geben Zeugniß von der Vergänglichkeit alles Irdischen: aber viele Schriftwerke aus dem Alterthum sind noch vorhanden und sind glorreich hindurchgegangen durch die Verwüstungen der Barbarei und der Unwissenheit, um noch nach Jahrtausenden mit jugend¬ licher Frische die Menschen zu belehren, zu erfreuen und für Wahres, Gutes und Schönes zu kräftigen *). Nämlich, wie vortrefflich Johannes von Müller sagt: „Scepter brechen, Waffen rosten, der Arm des Helden verweset, aber was in den Geist gelegt ist, das ist ewig.“ Doch ist die Sprache auch mehr als bloßes Surrogat der Rede. Nur die Schrift kann Uebereinstimmung und Regelmäßigkeit in die Sprache bringen: ohne alle Schrift gibt es kaum eine Sprache. So wie das Sprechen nicht möglich ist ohne ein Denken, so wird auch das Sprechen durch die Schrift sehr unterstützt und erleich¬ tert. Das Schreiben ist gleichsam eine Probe des Denkens: was man nicht schreiben kann, hat man auch nicht vollständig gedacht. Durch das Schreiben wird der Gedanke klarer und heller; man stößt dadurch auf früher nicht ge¬ ahnte Bedenklichkeiten; man sieht, was dem Gedanken noch fehlt, damit er sich Flüchtige und flatterhafte Menschen wer¬ für die schriftliche Mittheilung eigene. *) So konnte selbst Ovid seine Metamorphosen mit den Worten schließen: Jamque opus exegi, quod nec Jovis ira, nec ignes, Nec poterit ferrum, nec edax abolere vetustas. Cum volet illa dies, quae nil, nisi corporis huius Jus habet, incerti spatium mihi finiat aevi, Parte tamen meliore mei super alta perennis Astra ferar, nomenque erit indelebile nostrum. Quaque patet domitis Romana potentia terris. Ore legar populi, perque omnia saecula lama, Si quid habent veri vatum praesagia, vivam.