Full text: Reichenbach, Andreas: ¬Der Eid und die Eidesfrage in Deutschland

auch zu verwirklichen; ja der Mensch ist geistig sittlich beanlagt, 
sich selbst zur sittlichen Freiheit und Selbständigkeit durchzu 
arbeiten und auf dieser Höhe sein eigener Gesetzgeber, sowie Richter 
und Vollstrecker zu sein. Was wir Menschen nach unserem Vor 
stellen und Wissen Großes und Herrliches kennen, ist keimartig 
im Menschen vorhanden und darum hat man auch zur Vorstellung 
des Göttlichen von jeher keine erhabenere Form zu nehmen gewußt 
als die des Menschen. Das Christentum aber verfolgt den Menschen 
bis zu einer noch höheren Stufe der Vervollkommnung, nämlich bis 
zur völligen Hingabe seiner selbst für die idealen Güter der Wahr 
Auf dieser 
heit und Gerechtigkeit, bis zur Selbstaufopferung. 
höchsten Stufe nennt es ihn — Gottmensch und Erlöser. 
Das der Mensch auf seiner idealen Höhe. Staunend und bewundernd 
blicken wir zu dieser Höhe, zu unserem Ideal hinauf und suchen 
daraus Trost, Mut und Kraft für uns selbst zu gewinnen. 
Und nun halte man das Bild des alltäglichen Menschen da 
gegen: das Erkenntnisvermögen ist mangelhaft, oft kaum entwickelt, 
daher der Verstand getrübt; das Vernunfturteil befangen und daher 
vielfach falsch, der Wille gar leicht und vielmals irre geleitet und 
die Thatkraft gelähmt; in der Tiefe der Menschenbrust aber 
schlummern, gleich gräulichen Tieren, die verschiedensten Schwä 
chen, Anlagen zu groben Fehlern und häßlichen Lastern. Vorteil 
und Genuß, diese beiden sind es, welche in erster Linie sich zeigen, 
dann aber ein ganzes Heer zum Gefolge haben: Neid und Mißgunst, 
Lüge, Verstellung und Heuchelei, Betrug, Diebstahl, Raub und Mord 
und wie die verschiedenen menschenmöglichen Verbrechen sonst noch 
heißen mögen. Das häßlichste aber all' dieser Scheusale ist die 
Lüge in ihrer verschiedenen Gestalt: als bewußte Aussage der Un 
wahrheit, also als Lüge im eigentlichen und engeren Sinne, dann 
als Verstellung, als Heuchelei, als Schwindel und Betrug und schließ 
lich mit der absichtlichen Tötung des Nebenmenschen gepaart, als 
Meuchelmord. Das größte Verbrechen fordert noch eine gewisse 
Achtung heraus, wenn es offen geschieht, wenn der Verbrecher seine 
Absicht gegen den zum Opfer ausgesuchten Nebenmenschen sofort 
klar zu erkennen giebt; das Verächtlichste und Gemeinste aber be 
steht in dem Mißbrauch und dem Betrug der guten Meinung, des 
Glaubens und Vertrauens des Nebenmenschen, zu dem Zwecke, 
gerade ihm Schaden zuzufügen. Daher ist auch die Lüge von jeher
	        
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