auch zu verwirklichen; ja der Mensch ist geistig sittlich beanlagt,
sich selbst zur sittlichen Freiheit und Selbständigkeit durchzu
arbeiten und auf dieser Höhe sein eigener Gesetzgeber, sowie Richter
und Vollstrecker zu sein. Was wir Menschen nach unserem Vor
stellen und Wissen Großes und Herrliches kennen, ist keimartig
im Menschen vorhanden und darum hat man auch zur Vorstellung
des Göttlichen von jeher keine erhabenere Form zu nehmen gewußt
als die des Menschen. Das Christentum aber verfolgt den Menschen
bis zu einer noch höheren Stufe der Vervollkommnung, nämlich bis
zur völligen Hingabe seiner selbst für die idealen Güter der Wahr
Auf dieser
heit und Gerechtigkeit, bis zur Selbstaufopferung.
höchsten Stufe nennt es ihn — Gottmensch und Erlöser.
Das der Mensch auf seiner idealen Höhe. Staunend und bewundernd
blicken wir zu dieser Höhe, zu unserem Ideal hinauf und suchen
daraus Trost, Mut und Kraft für uns selbst zu gewinnen.
Und nun halte man das Bild des alltäglichen Menschen da
gegen: das Erkenntnisvermögen ist mangelhaft, oft kaum entwickelt,
daher der Verstand getrübt; das Vernunfturteil befangen und daher
vielfach falsch, der Wille gar leicht und vielmals irre geleitet und
die Thatkraft gelähmt; in der Tiefe der Menschenbrust aber
schlummern, gleich gräulichen Tieren, die verschiedensten Schwä
chen, Anlagen zu groben Fehlern und häßlichen Lastern. Vorteil
und Genuß, diese beiden sind es, welche in erster Linie sich zeigen,
dann aber ein ganzes Heer zum Gefolge haben: Neid und Mißgunst,
Lüge, Verstellung und Heuchelei, Betrug, Diebstahl, Raub und Mord
und wie die verschiedenen menschenmöglichen Verbrechen sonst noch
heißen mögen. Das häßlichste aber all' dieser Scheusale ist die
Lüge in ihrer verschiedenen Gestalt: als bewußte Aussage der Un
wahrheit, also als Lüge im eigentlichen und engeren Sinne, dann
als Verstellung, als Heuchelei, als Schwindel und Betrug und schließ
lich mit der absichtlichen Tötung des Nebenmenschen gepaart, als
Meuchelmord. Das größte Verbrechen fordert noch eine gewisse
Achtung heraus, wenn es offen geschieht, wenn der Verbrecher seine
Absicht gegen den zum Opfer ausgesuchten Nebenmenschen sofort
klar zu erkennen giebt; das Verächtlichste und Gemeinste aber be
steht in dem Mißbrauch und dem Betrug der guten Meinung, des
Glaubens und Vertrauens des Nebenmenschen, zu dem Zwecke,
gerade ihm Schaden zuzufügen. Daher ist auch die Lüge von jeher