IV. Der Handel der neuesten Zeit.
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Italien. Seit dem Zeitalter der Entdeckungen, welches den Welthandel
aus dem Mittelmeer nach dem Atlantischen Ozean gezogen hatte, war Italiens
Handelsbedeutung stetig geringer geworden. Gegen Ende des vorigen Jahr
hunderts war das Land fast völlig aus der Reihe der wirtschaftlich bedeutenden
Länder getreten, Venedigs Glanz verblichen, die italienische Industrie durch
England, Frankreich und Deutschland längst überflügelt. Die napoleonischen
Kriege und die Kontinentalsperre gaben dem italienischen Handel den letzten
Rest. Nach Beendigung dieser Kriege wurden die Territorialverhältnisse der
italienischen Staaten umgestaltet und die folgende Zeit des Friedens gab dem
Lande Gelegenheit zu einer im Süden fast unmerklichen, im Norden dagegen
raschen wirtschaftlichen Aufbesserung. Sardinien und Toskana machten nament
lich Fortschritte im Gebiete der Industrie; Genua, das nie ganz gesunken war,
und Livorno wurden im Laufe des Jahrhunderts zu aufblühenden Handels
plätzen. Seit 1859 begann das Einigungswerk Italiens, vom Glücke begünstigt,
sich zu vollziehen. Revolutionen und kurze Feldzüge an der Seite siegreicher
und mächtiger Bundesgenossen machten es möglich, daß das Königreich Sardinien
rn wurde, welchem in
mit seiner thätigen Bevölkerung zum Krystallisationsk
rascher Folge die übrigen Teile Italiens anwuchsen. So wurde 1859 die
Lombardei mit Hilfe der Bundesgenossenschaft Frankreichs erworben; die Emilia
(Modena, Parma, Romagna) und Toskana 1860, Umbrien und das Königreich
beider Sizilien ebenfalls 1860. 1866 verschaffte die Bundesgenossenschaft Preußens
auch noch Venetien. Der Sitz der Regierung wanderte von Turin über Florenz
nach Rom (1871), mit dessen Einverleibung das Einheitswerk vollendet war.
Nach vielhundertjähriger Zerrissenheit endlich zu einer einheitlichen Staats
form gelangt, darf Italien nicht mit dem Maßstabe gemessen werden, den man
an andere Staaten, welche seit langer Zeit fertig und geschlossen dastehen, an
legen kann. Es ist kein Kleines, wenn eine Reihe Länder, deren fast jedes lang
unter einer eigenen Despotie geschmachtet und außerdem Erinnerungen an mannig
fache vergangene Regierungsformen und Parteiungen mitgebracht hat, zu einem
einheitlichen politischen, wirtschaftlichen und Kulturleben gebracht werden; nur
die glänzende Begabung, der lebhafte Patriotismus und der emsige Fleiß, diese
guten Eigenschaften, welche den Bewohnern Norditaliens eigen sind, dürften
dieser schweren Aufgabe gewachsen sein. Die politische Unifikation war nicht
der schwierigste Teil, sie mußte ungemein erleichtert werden durch die heillose
Mißwirtschaft früherer Jahre, welche zu gut in der Erinnerung der meisten
italienischen Länder war. Schwieriger ist die einheitliche Gestaltung des Wirt
schaftslebens bei dem großen Unterschiede, der in dieser Hinsicht zwischen dem
fleißigen, strebsamen und intelligenten Norden und dem zurückgebliebenen Volke
Unteritaliens besteht, bei der ungünstigen Verteilung des Bodens und des
Nationalreichtums. Die geistige Annäherung der einzelnen Teile des Volkes ist
gleichfalls durch die bestehenden großen Bildungsverschiedenheiten in mannig
facher Weise erschwert. Trotz dieser Schwierigkeiten hat die endliche nationale
Einigung dem italienischen Volke in allen Richtungen so lebhafte Impulse ge
geben, daß dasselbe heute eine höchst achtungswerte Stellung unter den euro
päischen Nationen einnimmt. In Bezug auf äußere Politik durch seine fast
insulare Lage vor manchen Hemmnissen bewahrt, zeigt Italien immer noch
mannigfache Sympathien mit Frankreich, obgleich auch die friedliche Fühlung
mit dem Deutschen Reiche immer inniger wird. Die innere Politik ist ent
schieden liberal, auf jede mögliche Hebung der geistigen und materiellen Volks
wohlfahrt bedacht.
Von einer eigentlichen, systematisch verfolgten Handelspolitik kann bei
der kurzen Dauer des gegenwärtigen Königreichs Italien nicht die Rede sein.
Die Zolllinien, welche früher zwischen den einzelnen italienischen Staaten