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bei der jetzigen Überfüllung der Verhandlungstermine, sowieso
die Kollegiumsjustiz bei Lichte besehen häufig genug nur
Respizientenjustiz ist!
Auch wir sind und bleiben im großen und ganzen Freunde
des mündlichen
Verfahrens. Doch wollen wir darum nicht
des bloßen Princips der Mündlichkeit halber den Satz des
alten Verfahrens „quod non in actis, non est in mundo ein
fach ersetzt haben durch den nicht minder unheilvollen Satz:
„nur was die Rechtsanwälte reden, nur was die Richter
hören, existiert für den Richter. Wie mancher gute Prozeß
ist dem hoffnungsfreudigen Rechtsanwalt, wider alles Erwarten
auch des Gegenanwalts, schon kläglich gescheitert zu Folge der
für manchen Richter so außerordentlich bequemen Anwendung
dieses Satzes.
Wie selten aber ist es möglich, nach solchem in erster
Instanz erlittenen Schiffbruch das gescheiterte Prozeßwrack
wieder in zweiter Instanz zur neuen glücklichen Ausfahrt zu
reparieren!
Wir unsererseits sehen den Hauptnutzen des Mündlichkeits
princips nicht in den Redeturnieren, welche geschickte und un
geschickte Rechtsanwälte vor aufmerksamen oder auch unauf
....
merksamen Richtern aufführen, sondern darin, daß zwischen
Rechtsanwälten und Richtern (analog dem amtsgerichtlichen
Verfahren) ein unmittelbarer mündlicher Verkehr stattfindet in
dem Umfange, wie das ein jeder Prozeß zur Vorbereitung und
Aufklärung grade bedarf.
Dieser lebendige Verkehr zwischen Richtern und Rechts
anwälten ist unseres Erachtens allein im stande, den jetzigen
deutschen Prozeß vor der Versumpfung zu bewahren.
Ist seiner Zeit der gemeine deutsche Civilprozeß im Akten
staub der Schriftlichkeit erstickt, so kann nur zu leicht der jetzige
schmählich verkommen in dem trügerischen Komödienspiel einer
scheinbaren Mündlichkeit.
Pierer'sche Hofbuchdruckerei. Stephan Geibel & Co. in Altenburg.