Full text: Archiv für bürgerliches Recht (Bd. 34 (1910))

3. Freie Rechtsfindung und Differenzierung des Rechtsbewußtseins

1.

Freie Rechtsfindung und Differenziemng des

Von Rechtsanwalt Dr. S. Rundst ein in Warschau.

Es ist ein charakteristisches Merkmal unseres vielbewegten
und durch soziale Widersprüche und Reibungen gekennzeichneten
Zeitalters, daß sowohl die Frage der Rechtsschöpfung im Gesetz-
gebungswege wie auch der richterlichen Rechtsanwendung einer
kritischen Prüfung in bezug auf ihren Kulturwert unter-
zogen wird. Wenn auch der Begriff des Kulturwertes und der
Kulturentwicklung im Urteile der kämpfenden Sozialgruppen ein
verschiedener und schwankender sein kann, so unterliegt es doch
keinem Zweifel, daß hierdurch ein Maßstab geschaffen ist, an dem
die Richtigkeit und Zweckmäßigkeit der Rechtsschöpfung und
Rechtsanwendung gewertet werden kann. Es handelt sich nicht
mehr um logische Übereinstimmung des Tatbestandes mit der
Rechtsfolge, um „syllogistische" Harmonie der Begriffe, sondern
um direkte Schaffung von gewissen Jnteressenabwägungen, deren
Inhalt und Endzweck als erwünscht und angesichts bestimmter
sozialer Bedürfnisse als notwendig vorausgesetzt wird. Bei
direkter Rechtsschöpfung im Gesetzgebungswege tritt dieses
Moment unverhüllt in den Vordergrund: die Zeiten sind
längst vorüber, wo man die „neugeschaffenen" Rechtsnormen als
abstrakte Größen erachtete, deren „ratio ossencki" bloß im gesetz-
geberischen Sanktionsbefehle gesucht werden mußte. Jetzt weiß
man, daß die Rechtsnorm eine Resultante sozialer Kräfte sei, daß
die Sanktion nicht konstitutiv, sondern deklarativ wirkt, indem
Archiv für bürgerliche- Recht. XXXIV. Band. 1

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