Full text: Archiv für bürgerliches Recht (Bd. 20 (1902))

Goldschmidt's Besitzlehre.

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gegentheilige Lehre erst später zu nennenswerthem Einfluß gelaugt ist.
Trotzdem scheint mir das von ihm Gesagte bereits genügendes Material
zu ihrer Widerlegung zu bieten.
Diese Bedeutung der Verschiedenheiten des Lebens und der Ent-
wickelung für den Besitzbegrisf haben die klassischen Juristen in ihrer
Genialität bereits wohl erkannt; „nirgends zeigt sich die Größe der
römischen Jurisprudenz greifbarer, als in der genialen Sicherheit, mit
welcher sie intuitiv die derzeitige Anschauung der Gesellschaft
zur rechtlichen Geltung bringt", S. 71, s. auch 48, 229.

Zum Besitze gehören nach Goldschmidt animus und corpus
als getrennte, unabhängige Faktoren. Keines darf in seiner Selbst-
ständigkeit vernachlässigt werden. Die neue Jhering'sche Lehre
von der Verwerflichkeit eines spezisischen Besitzwillens ist in Konsequenz
der Goldschmidt'schen Anschauung entschieden abzulehnen, und
nichts vielleicht ist an dem vorliegenden Werke mehr zu beklagen, als
daß es nicht bereits gegenüber Jhering's neuerem, erst 1889 er-
schienenem. Werke Stellung hat nehmen können — wir hätten sicherlich
daraus manch treffendes Wort der Widerlegung vernommen.
Aber auch die von Lenz und Anderen vertretene, neuerdings
gegenüber Jhering von Kuntze mit Geist und Gewandtheit auf-
genommene „Willenstheorie", die uuimus und corpus nicht als zwei
getrennte Größen, sondern als zwei Seiten derselben Sache auffaßt,
wird von Goldschmidt entschieden und, wie er selbst meint, über-
zeugend bekämpft. So sehr ich seine bisher mitgetheilte Grund-
anschauung des Besitzes im Uebrigen billige, kann ich ihm in diesem
Punkte nicht folgen. Man mag zu Jhering's „Besitzwillen" sonst
stehen wie man wolle — daß das Buch der alten dualistischen Lehre
von der Getrenntheil des unimus und corpus possidendi schwere,
wenn nicht unheilbare, Wunden geschlagen hat, sollte nicht mehr be-
stritten werden dürfen — daß auch Kuntze, Jhering's beredtester
Gegner, sie in seiner Gegenschrift aufgegeben hat, mag dafür der beste
Beweis sein. Selbst Goldschmidt's Vertheidigung (s. S. 93, 115}
kann mich von der Haltbarkeit der dualistischen Theorie nicht über-
zeugen; zum mindesten ist dies ein Punkt, in dem seine Lehre als
durch die literarische Bewegung der Zwischenzeit überholt bezeichnet
werden muß. Ich wiederhole meine Bemerkungen aus Grünhut's Zeit-

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