Full text: Deutsche Juristen-Zeitung (Jg. 6 (1901))

No. 1.

Deutsche Juris ten-Zeitung.

11

Die allgemeine Ueberzeugung derjenigen, welche
diesen Erscheinungen ihre Aufmerksamkeit zuwenden,
geht nun heute dahin, dafs die unbefriedigenden
Ergebnisse unserer Strafrechtspflege mit dem im
geltenden Recht gegebenen Strafensystem in ursäch-
lichem Zusammenhang stehe; die allgemeine An-
schauung geht deshalb heute dahin, dafs eine
Besserung jener Schäden eine gründliche und
systematische Revision unseres Strafgesetzbuches,
insonderheit des Strafensystems und des Strafvoll-
zugswesens, zur notwendigen Voraussetzung habe.
Und je länger diese Revision hinausgeschoben
wird, desto fühlbarer werden die Mängel des gelten-
den Rechts, und desto bitterer wird die Kritik, die
sich gegen den gegenwärtigen Rechtszustand richtet.
Ein jeder, dem die Erhaltung und Kräftigung treuer
Staatsgesinnung in unserem Volk am Herzen liegt,
mufs sich heute vor Augen führen, welch schwere
Nachteile aus einem solchen Sinken des Vertrauens in
die Wirksamkeit der Rechtspflege erwachsen müssen!
Der Wunsch, die Mängel des gegenwärtigen
Rechtszustandes zu bessern, hat nun in den letzten
Jahren zu mancherlei Reformvorschlägen geführt.
Freilich ist der Kampf gegen das geltende Recht
hierbei wohl gelegentlich mit allzu grofser Schärfe
geführt worden: In der Ueberzeugung, dals die
hervorgetretenen schweren Schäden nur durch
eine völlige Abkehr von den bisherigen Grund-
lagen unserer Strafgesetzgebung zu heilen seien,
haben manche ihren Angriff unmittelbar gegen die
Grundmauern unseres Rechtes gerichtet. Heute hat
sich jedoch die Schärfe des Kampfes gemildert —
die Möglichkeit des Kompromisses wird vom An-
greifer selber ins Auge gefafst, der Wunsch nach
einer Verständigung ausdrücklich betont. Aber
auch die Verteidigung des geltenden Rechtes ist
eine andere geworden: Die Frage, ob eine Revision
unseres Strafgesetzbuches notwendig sei, steht heute
nicht mehr zur Debatte, an ihre Stelle ist die Frage
getreten: wie kann, wie soll geändert und ge-
bessert werden?
Wer eine baldige Revision des geltenden
Rechtes für notwendig hält, und wer gleichzeitig
wünscht, dafs sich diese Revision auf den bisherigen
Fundamenten unseres Rechtes aufbaue, mufs heute
zu dieser Frage Stellung nehmen! In aller Kürze
soll dies auch hier geschehen!1)
Der thatkräftigste und geistvollste Gegner des
geltenden Rechtes, Franz v. Liszt, richtete vom Be-
ginn des Kampfes an seinen Angriff unmittelbar
gegen das das geltende Recht beherrschende Grund-
prinzip: die Idee der gerechten Vergeltung; an die
Stelle dieser Idee soll, seiner Forderung gemäfs, der
„Zweckgedanke“ treten; sein Programm einer Ge-
setzgebung der Zukunft formuliert er in dem Satz:2)

Bezüglich einer eingehenderen Stellungnahme zu den Reform-
fragen verweise ich auf meine Abhandlungen: Strafrecht und Ethik#
Leipzig 1897, Politik als Wissenschaft, Strafsburg 1898, Vergeltungs-
idee und Zweckgedanke, Heidelberg 1899, Die Bekämpfung der
Kriminalität durch die Fürsorge, in dem 72. Jahresbericht der Rhein.-
Westfäl. Gef.-Gesellschaft.
2) Lehrbuchjdes Strafrechts, 10. Aufl. S. 62.

Die Kriminalpolitik verlangt, „dafs die Strafe als
Zweckstrafe sich in Art und Mafs nach der Eigen-
art des Verbrechers richte, den sie durch Zufügung
eines Uebels (durch einen Eingriff in seine
Rechtsgüter) von der künftigen Begehung weiterer
Verbrechen abhalten will“. In der weiteren Aus-
führung dieses Grundsatzes fordert er, dafs Straf-
art und Strafmals nach dem Gesichtspunkt zu be-
stimmen seien, ob der Thäter als „Zustands-
verbrecher“, als „angehender Zustandsverbrecher“
oder nur als „Augenblicksverbrecher“ zu erachten
ist. Da von v. Liszt’s Standpunkt aus somit die
„Spezialprävention“, d. h. der dem einzelnen Ver-
brecher gegenüber durch die Strafe zu erreichende
Zweck, der für die Bestimmung von Strafart und
Strafmals entscheidende Gesichtspunkt sein mufs,
kann diese Unterscheidung nur als folgerichtig be-
zeichnet werden.
Der Anhänger der Vergeltungsidee ist nun aber
gezwungen, diesen Standpunkt und dieses Programm
grundsätzlich zu bekämpfen, und zwar um des-
willen, weil seiner Anschauung nach der Gesichts-
punkt der „General prävention“ für die Be-
stimmung von Strafart und Strafmafs entscheidend
ist,1) und weil von diesem Gesichtspunkt aus nicht
der „Zustand“ des Verbrechers, sondern viel-
mehr die Schwere des Verbrechens das Prinzip
der Beurteilung zu bilden hat.
Meine Absicht ist nun nicht die, an dieser Stelle
den Standpunktv.Liszt’s zu bekämpfen; meine Absicht
ist vielmehr, zu zeigen, dals wir auch, ohne den unser
geltendes Recht beherrschenden Grundgedanken der
gerechten Vergeltung aufzugeben, durch eine tielere
und reinere Erfassung dieses Grundgedankens zu
einem gesetzgebungspolitischen Prinzip gelangen
können, dessen Durchführung eine wirksamere Be-
kämpfung des Verbrechens ermöglicht, und dem —
wenigstens in seinen praktischen Konsequenzen —
so viel ich sehe, auch v. Liszt von seinem Stand-
punkte , aus durchaus zustimmen kann.
v. Liszt betrachtet als seine Gegner die An-
hänger „der ,klassischen* Anschauung, die in rein
materieller, äufserlicher, mechanischer Weise nur
den Erfolg der That . . . berücksichtigt“.2) Ich
glaube zwar nicht, dals eine Anschauung, wie sie
mit diesen Worten bezeichnet ist, heute noch von
vielen Kriminalisten vertreten wird; wo dies der Fall
ist, kann eine solche Anschauung jedenfalls nicht
als eine Vertretung des Prinzips der gerechten
Vergeltung im Sinne der heutigen wissenschaft-
lichen Auffassung erachtet werden. Allerdings
ist vom Standpunkt der Vergeltungsidee aus für
die Bestimmung der Art, wie der Höhe der Strafe
mafsgebend die Schwere der zur Aburteilung
stehenden Strafthat. Die Bewertung der Schwere

1) Dafs damit die Berücksichtigung der in concreto zu er-
reichenden Zwecke nicht ausgeschlossen wird, dafs vielmehr die Ver-
geltungsidee begrifflich die Zweckbeziehung in sich schliefst: Ver-
hinderung einer Wiederholung des erduldeten Uebels durch die
Reaktion gegen den Angriff, habe ich an anderer Stelle ausgeführt.
Vgl. Vergeltungsidee und Zweckgedanke S. 14 f.
2) Zeitschrift f. d. ges. Strafrechtswissenschaft, Bd.XXI S. 123.

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