Full text: Deutsche Juristen-Zeitung (Jg. 6 (1901))

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Deutsche Juristen-Zeitang.

VI. Jahrg.

Wenn wir nun zur Erhebung und Durchführung der
Anklage ein besonderes Organ, die Staatsanwaltschaft,
berufen haben, so bedeutet das den Zusammenbruch des
Inquisitionsverfahrens. Das Wesen des reformierten
Prozesses besteht in der Schaffung der Parteirollen. Neben
den Kläger tritt der Beklagte, der mit selbständigen
Rechten ausgestattet und damit zum Prozefssu bj ekt er-
hoben ist, und sein Beistand, der Verteidiger. Damit ist
das Strafverfahren künstlich zum Strafprozefs, zum
Parteiprozefs gemacht worden.
Heber die Gründe, die zu dieser Umgestaltung ge-
führt haben, giebt uns die Geschichte des 19. Jahrhunderts
unzweideutige Kunde. Man hatte sich überzeugt, dafs der
Inquisitionsprozefs wenig geeignet ist, zur Erforschung
der Wahrheit zu dienen, dafs man vielmehr das Ziel
rascher und sicherer erreichen könne gerade dadurch, dafs
man künstlich Parteien schuf, wo in Wahrheit keine vor-
handen sind. Daraus ergiebt sich eine wichtige Folgerung:
Staatsanwalt und Verteidiger sind in gleicher Weise
berufen, der Wahrheitserforschung zu dienen,
aber nicht unmittelbar, sondern mittelbar, d. h.
dadurch, dafs jeder von ihnen seinen Parteistandpunkt
vertritt, soll die Wahrheit kund werden. Man kann diesen
Grundgedanken de lege ferenda angreifen; aber man hat ihn
zu beachten, so lange das Gesetz besteht. In dieser Er-
kenntnis liegt der Schlüssel für das Verständnis der recht-
lichen Stellung der Verteidigung.
Ich gebe eines zu: die Parteistellung der Staatsanwalt-
schaft ist allerdings durch unsere Prozeßordnung besonders
verdunkelt worden. Durch die Aufstellung des Legalitäts-
prinzips, durch die dem Staatsanwalt auferlegte Ver-
pflichtung, in gleicher Weise Entlastungs- wie Belastungs-
momente zu prüfen, durch das ihm eingeräumte Recht,
Rechtsmittel zu Gunsten des Beschuldigten einzulegen,
u. s. w. könnte ein blofser Civiljurist zu der Annahme
verleitet werden, als wäre die Staatsanwaltschaft nicht
Partei, sondern die objektivste Behörde der Welt. Ein
Blick in das Gesetz reicht aber aus, um diese Entgleisung
als solche zu erkennen. Es genügt der Hinweis auf § 147
GVG.: „Die Beamten der Staatsanwaltschaft sind ver-
pflichtet, den dienstlichen Anweisungen ihrer Vorgesetzten
nachzukommen.“ Auf Anweisung hin hat der StA. auf Ver-
urteilung zu plädieren, auch wenn er von der Unschuld
des Angeklagten überzeugt ist, und umgekehrt. Dies
würde sich als eine Verhöhnung des Rechts darstellen,
wenn es auf die persönliche Ansicht des Staatsanwalts
überhaupt ankäme und dieser nicht lediglich als Ver-
treter des einseitigen Standpunkts der Anklagebehörde in
Wirksamkeit träte. Gerade weil er das ist und blos das,
trägt er nach Ansicht des Gesetzes am besten zur Auf-
klärung der Wahrheit bei.
Ganz so liegt die Sache beim Verteidiger. Auch er
ist da, um der Wahrheit zu dienen, indem er seiner
Parteirolle treu bleibt. Seine persönliche Ueberzeugung
ist gleichgültig. Er hat die Interessen des Beschuldigten
wahrzunehmen. Je entschiedener er das thut, desto
fester hoffen wir, dafs die Wahrheit zu Tage treten werde.
Der Verteidiger ist der vom Gesetz berufene Bei-
stand des Beschuldigten. Daraus folgt: 1. Seine recht-
liche Stellung ruht auf dem Willen des Gesetzgebers.
Er hat die Verteidigung nach seinem besten Wissen und
Gewissen, nach seinem pflichtmäfsigen Ermessen, nicht
aber nach dem Willen und den Weisungen des Be-
schuldigten zu führen. Das gilt in den Fällen der not-
wendigen Verteidigung ganz so wie für den gewählten
Verteidiger. Innerhalb seines pflichtgemäßen Ermessens
wird der Verteidiger nach Möglichkeit den Ratschlägen
und den Wünschen seines Klienten Rechnung tragen.

2. Er ist zur Wahrnehmung der Interessen des
Beschuldigten berufen. Gerade indem er das thut,
vom einseitigen Parteistandpunkte aus, dient er im Sinne
des Gesetzes der Wahrheitserforschung. In diesem Punkte
ist die Litteratur durchaus einig. Es genügt auf Glaser
und Holtzendorff, auf Lilienthal und Birkmeyer hinzuweisen.
Daher darf der Verteidiger immer nur zu Gunsten des
Beschuldigten, niemals zu seinen Ungunsten
thätig sein. Der Verteidiger, der das letztere thäte,
würde die gröbste Pflichtverletzung begehen, deren er
sich überhaupt schuldig machen kann; und er würde zu-
gleich, das ist die Ansicht des Gesetzes, die Erforschung
der Wahrheit auf das schlimmste gefährden.
Zu demselben Ergebnis führt auch eine andere Er-
wägung. Der Beschuldigte ist zweifellos nicht verpflichtet,
zu seinen Ungunsten thätig zu sein. Würde der dem Be-
schuldigten als Beistand beigegebene Verteidiger dazu
berechtigt oder gar verpflichtet sein, so wäre damit die
rechtliche Lage desjenigen Beschuldigten, der keinen Ver-
teidiger hat, günstiger, als die des verteidigten Beschuldigten.
Dieser Satz, dafs der Verteidiger niemals zu Ungunsten
des Beschuldigten thätig werden darf, ergiebt die Lösung
verschiedener, in letzter Zeit vielfach erörterter Fragen.
a) Darf der Verteidiger auf „Nicht schuldig“
plädieren, obwohl er von der Schuld seines
Klienten überzeugt ist?
Die Beantwortung dieser Frage hat mit idealistischer
oder sonstiger Weltanschauung nichts zu thun, ihre
Lösung beruht auf rein sachlichen, juristischen Erwägungen
Man wird sagen müssen: Der Verteidiger darf in
solchen Fällen auf „Nicht schuldig“ plaidieren, er mufs
es nicht. Dafür sprechen folgende Gründe: Zunächst die
schon hervorgehobene Erkenntnis, dafs es auf die per-
sönliche Ueberzeugung des Verteidigers ebensowenig an-
kommt, wie auf die des Staatsanwalts. Die Ueberzeugung
eines Einzelnen kann auf Irrtum beruhen. Dies gilt auch
dann, wenn sie sich auf ein Geständnis des Beschuldigten
stützt. Das Geständnis kann im Widerspruch zu den
Thatsachen stehen; der Beschuldigte kann geisteskrank
sein u. s. w. Aber nehmen wir einmal den Fall, der Be-
schuldigte habe dem Verteidiger ein diesem absolut glaub-
würdiges Geständnis abgelegt. Was hat der Verteidiger
zu thun? Ich meine, das erste wäre, dafs er zu dem Be-
schuldigten sagt: „Das Geständnis, das Du mir abgelegt
hast, wiederholst Du morgen vor dem Gericht; damit
sicherst Du Dir nicht nur eine mildere Strafe, sondern
auch den Frieden Deines Innern “ Es wird in einem
solchen Falle wohl mit ganz besonderen Dingen zugehen
müssen, wenn der Beschuldigte den Rat des Verteidigers,
dem er eben sein Herz aufgeschlossen hat, in den Wind
schlägt. Sollte dieser Ausnahmefall aber eintreten, so ist
auch jetzt dem Verteidiger der Weg vorgezeichnet: die
etwaigen Schwächen der Anklage hat er zu betonen, die
rechtlichen Bedenken vorzubringen; und wenn er dazu
keinen Anhalt findet, dann hat er zu schweigen. Niemals
aber darf er das Vertrauen mißbrauchen, das der Be-
schuldigte in einer Stunde innerer Einkehr ihm geschenkt
hat. Schwerste Mißachtung jeder rechtlichen und sittlichen
Pflicht wäre es, wenn er, gestützt auf das Geständnis, auf
„Schuldig“ plädierte.
Bedarf es einer besonderen Hervorhebung, daß
zwischen dem auf die persönliche Ueberzeugung gestützten
Eintreten für die Schuld und dem ebenfalls auf persön-
liche Ueberzeugung gestützten Eintreten für die Unschuld
noch ein Drittes möglich ist: die ruhige, streng objektive
Betonung der zu Gunsten des Beschuldigten sprechenden
Momente? Nur dies ist es, was ich in einem solchen
Falle von dem Verteidiger fordere, und hier verweise ich

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