23.3.
Justizstatistik
Berichterstatter: Oberlandesgerichtspräsident Lindenberg, Posen
23.3.1.
Die Tätigkeit der preußischen Gerichte in Strafsachen
23.4.
Vermischtes
23.4.1.
Brief aus Oesterreich
1123
XVIII. Jahrg. Deutsche Juristen-Zeitung. 1913 Nr. 18.
1124
Justizstatistik.
Berichterstatter: Oberlandesgerichtspräsident
Lindenberg, Posen.
Die Tätigkeit der preußischen Gerichte in
Strafsachen, Die Geschäftsübersicht für 1912 läßt beim
Vergleich mit den Zahlen für 1911 keine gleichmäßige
Tendenz erkennen. Bei den Landgerichten sind die Straf-
sachen gestiegen, bei den Amtsgerichten haben sie teils
eine Zunahme, teils eine Abnahme erfahren. Letztere er-
streckt sich insbesondere auf die leichteren Straftaten, was
wohl den Schluß rechtfertigt, daß geringere Intensität
der Strafverfolgung bei dem Rückgang der Verurteilungen
eine gewisse Rolle spielt. Es sind bei den Amtsgerichten
34 285 Strafbefehle in Forstdiebstahlssachen gegen 39 817
i. J. 1911 und 174 800 Anträge auf Erlaß von Strafbefehlen
in anderen Sachen gegen 176 126 anhängig geworden.
Auch die Anklagesachen wegen Uebertretungen sind von
165 379 auf 160 559 zurückgegangen. Dagegen sind die
Anklagesachen wegen Vergehen von 276 626 auf 278 582
gestiegen und auch die Privatklagesachen haben sich von
88 357 auf 89 404 erhöht. Die Gesamtzahl der Urteile
der Schöffengerichte ist von 427 913 auf 429 526 gestiegen,
die der Urteile der Amtsgerichte von 25 867 auf 23 141
gesunken. Der Rückgang der amtsgerichtlichen Urteile
läßt auf eine Abnahme des Betteins und Landstreichens
schließen, vielleicht aber auch auf eine strengere Beachtung
der bisher vielfach nicht richtig aufgefaßten Vorschrift der
StrPO., daß die Bettler usw. nur dann ohne Schöffen
abgeurteilt werden dürfen, wenn dies sofort nach ihrer
Einlieferung, also nicht erst nach Ermittelung ihrer Vor-
strafen, geschehen kann. Durch die von den Schöffenge-
richten ergangenen Urteile sind 415 328 (i. J. 1911 412000)
Personen verurteilt und 118 020 (123 372) freigesprochen.
Während also die Verurteilungen um 3328 gestiegen
sind, zeigen die Freisprechungen einen Rückgang
um 535 2. Dieses beachtenswerte Ergebnis, das sich auch
auf andere Weise dadurch ausdrücken läßt, daß von 100
abgeurteilten Personen nur 22,1 freigesprochen sind gegen
23,0 i. J. 1911, spricht dafür, daß bei Erhebung der An-
klagen eine steigende Zurückhaltung und Vorsicht obwaltet.
Bei den Landgerichten sind die von der Staatsanwalt-
schaft zu bearbeitenden Anzeigesachen i. J. 1912 von
680 918 auf 698 658 gestiegen. Leider erfährt man aus der
amtlichen Statistik nichts über das weitere Schicksal dieser
Sachen. Daß die Schnelligkeit ihrer Bearbeitung im letzten
Jahre Fortschritte gemacht hat, ist daraus zu entnehmen,
daß am Jahresschlüsse nur 62 932 unbeendet geblieben sind
gegen 68 944 im Vorjahr. Voruntersuchungen sind 14 208
anhängig geworden gegen 14 120 i. J. 1911. Hauptverfahren
wurden anhängig vor den Schwurgerichten 2647 gegen
2729 im Vorjahr, vor den Strafkammern in erster Instanz
wegen Verbrechen 34 694 gegen 33 116 und wegen Ver-
gehen 21 279 (18 472). Während also bei den Schwur-
gerichten ein Rückgang stattgefunden hat, sind die Haupt-
verfahren vor den Strafkammern recht erheblich (um 8.5 %)
gestiegen. Auch die Berufungen bei den Strafkammern
haben sich von 68 647 auf 70 283 erhöht, und ebenso sind
die Beschwerden von 16 673 auf 17 354 gestiegen. Ver-
urteilt sind von den Schwurgerichten 3000 (i. J. 1911 3091),
ff eigesprochen 714 (767) Personen. Der Anteil der Frei-
sprechungen ist somit von 19,9 auf 19,2 % zurückgegangen.
Von den Strafkammern sind in erster Instanz 68 037 (63 101)
Personen verurteilt und 10899 (10797) freigesprochen. Auch
hier sind also die Freisprechungen verhältnismäßig
zurückgegangen, nämlich von 14,6 auf 13,8%- Von
den Urteilen zweiter Instanz lauteten 22 063 (21 852) auf
Aufhebung des ersten Urteils und 34631 (33390) auf Ver-
werfung der Berufung. Das erstinstanzliche Urteil ist also
in 38,9 (i. J. 1911 in 39,5) % aller Fälle aufgehoben worden.
Bei den Oberlandesgerichten sind 45 (i. J. 1911 33)
Revisionen gegen Urteile erster Instanz und 6273 (6165)
Revisionen gegen Urteile der Berufungsinstanz anhängig
geworden. Von den ergangenen 5523 (i. J. 1911 5473)
Urteilen lauteten 1019 (1032) auf Aufhebung des vorinstanz-
lichen Urteils, so daß auch bei den Oberlandesgerichten
der Anteil der Aufhebungen ein wenig (von 18,9 auf 18,5%)
gesunken ist.
Vermischtes.
Brief aus Oesterreich. Das Abgeordneten-
haus hat im letzten Abschnitte seiner Tagung allgemein
enttäuscht. Gesetzgeberisch hat es in diesem Jahre wenig
geleistet. Die Annahme eines Budgetprovisoriums und
die zeitweise Verlängerung der unzulänglichen Bestimmungen
der Geschäftsordnung, die gegen die Obstruktion schützen
sollen, betrachtet begreiflicherweise niemand als eine
Leistung. Sonst wurde, von einigen kleinen Vorlagen abge-
sehen, nur noch das Güterbeamtenges^etz verabschiedet,
womit der Dienstvertrag der zu höheren Diensten in derLand-
und Forstwirtschaft angestellten Personen nach dem Beschluß
des Herrenhauses in durchaus modernem Geiste — alle Be-
stimmungen des Gesetzes sind zwingend — geregelt wird.
Der sog. kleine Finanzplan (Erhöhung der Per-
sonaleinkommensteuer, Branntwein- und Totalisateursteuer
und Einführung einer Schaumweinsteuer) kam nicht über
die Generaldebatte hinaus. Die neuen Steuern und Abgaben
sollten die Deckung für die Kosten der Durchführung
der Dienstpragmatik (ungefähr 30 Millionen Kronen) liefern.
Der Rest der Mehreinnahmen (ungefähr 50 Millionen Kr.
jährlich) sollte den Ländern überwiesen werden, die einer
Vermehrung ihrer Einnahmen dringend bedürfen. An
starken Antrieben zur Annahme der Vorlage hat es also
nicht gefehlt. Indessen waren die Gegengründe einzelner
kleiner, mit Obstruktion drohender Gruppen des Hauses
stärker. Es wurde aber nicht nur im Hause selbst nichts
zustande gebracht, sondern auch die Ausschüsse haben
wenig fertiggestellt. So wurde im Justizausschusse des
Abgeordnetenhauses durch die schleppende Behandlung
des Entwurfes der Advokatenordnung die Tagesordnung
durch mehrere Monate verrammelt. Die Regierungsvor-
lage wurde schließlich mit einigen Aenderungen im Aus-
schüsse angenommen. Zu ausführlichen Verhandlungen
und wechselnden Beschlüssen gab die Frage der Zulassung
der Advokaten zur Vertretung vor den Gewerbe-
gerichten Anlaß. Beschlossen wurde, daß Advokaten
nur in Sachen im Werte von mehr als 1000 Kr. zuge-
lassen werden. Das Privileg der älteren Richter, zur
Advokatur überzutreten, wurde schließlich aufrechterhalten;
nur darf sich der Richter nicht an seinem letzten Dienstort
als Advokat niederlassen. Die Berufsimmunität der Anwälte
wurde nach der Regierungsvorlage umschrieben: der Anwalt
haftet strafrechtlich nur für Vorbringen, das nicht zur
Sache gehört, und für Vorbringen wider besseres Wissen
oder aus grober Fahrlässigkeit. Die Novelle zum
Bürgerlichen Gesetzbuche wurde dem Justizausschuß
zugewiesen, aber noch nicht in Angriff genommen. Zu
erwähnen wäre noch, daß die Regierung im Abgeordneten-
hause den Entwurf eines neuen Gesetzes über den Schutz
von Mustern (Musterschutzgesetz) eingebracht hat.
Das Herrenhaus hat nun auch die Entwürfe zur Durch-
führung der Strafrechtsreform nach einer großzügigen
Debatte angenommen. In der Verhandlung wurde allgemein
mit Genugtuung auf die unverkennbar österreichische Marke
dieser gelungenen gesetzgeberischen Arbeiten hingewiesen.