Full text: Deutsche Juristen-Zeitung (Jg. 18 (1913))

22.1.3. Wie ist den hauptsächlichsten Klagen des Volkes über den Zivilprozeß abzuhelfen?

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XVIII. Jahrg. Deutsche Juristen-Zeitung. 1913 Nr. 16/17.

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wie dem Gerichte zu unterbreiten, damit der Rechts-
streit auch einmal seinem Zwecke, der Ent-
scheidung, entgegengeführt werde. Allein zu
beanstanden ist der eingeschlagene Weg. Wenn
die Klagebeantwortung nach Abhaltung des Vor-
termins binnen gewisser Frist eingereicht worden ist,
können nach § 258 in der Zeit zwischen der dann
erfolgenden Anberaumung und dem Beginne der
Streitverhandlung die Parteien sich „Anträge, An-
griffs- und Verteidigungsmittel, Behauptungen und
Beweise, welche sie in der Streitverhandlung geltend
machen wollen“, durch besondere vorbereitende
Schriftsätze mitteilen. Im übrigen fehlt eine Rege-
lung des weiteren Schriftwechsels durch das Ge-
setz. Dem Gerichte steht vor der Streitverhand-
lung kein Einfluß darauf zu. Das hat nun zwar zur
Folge, daß meist der Streitstoff von den Parteien bis
zur mündlichen Verhandlung gesammelt wird, so daß
daraufhin wirklich ein dem Sach- und Streitstande
entsprechendes Urteil ergehen kann. Anderseits
birgt dieses Verfahren die Gefahr in sich, daß ein
Rechtsstreit auch ohne vollständige Vorbereitung in
tatsächlicher Beziehung verhandelt und entschieden
wird, weil eine Partei der Meinung sein kann, der
Gegner werde sich auf neues Vorbringen sofort
erklären wollen, während dies tatsächlich nicht der
Fall ist, das Gericht auch seine Verpflichtung hierzu
nicht anerkennt, aber auch die Vertagung der Streit-
verhandlung nicht bewilligt.1) Die Tagsatzung zur
mündlichen Verhandlung in Verbindung mit der
grundsätzlichen Verweigerung der Vertagung wirkt
demnach tatsächlich wie der von Rechts wegen
erfolgende Ausschluß aller nicht rechtzeitig
geltend gemachten Angriffs- und Verteidigungsmittel.
Das aber enthält nichts weiter als die Durchführung
des Grundsatzes der Konzentrierung des An-
griffs- und Verteidigungsmittels wenigstens für
diesen Zeitpunkt, eines Grundsatzes, den man
gewöhnlich als Eventualmaxime bezeichnet.
Dabei ist es gerade bezeichnend, daß diejenigen,
welche diesen Prozeßgrundsatz sonst auf das Nach-
drücklichste bekämpfen, ihn bei der Empfehlung des
österreichischen Verfahrens, ohne zu zucken, der
Sache nach übernehmen wollen.
Wer jene Gefahr vermeiden und trotzdem
einen raschen Rechtsgang hersteilen will, muß daher
dazu übergehen, nicht bloß Klage und Klagebeant-
wortung, sondern auch den Wechsel der außerdem
etwa noch erforderlichen Schriftsätze der Leitung
des Gerichts zu unterstellen, und zwar jeweilig
unter Androhung des Ausschlusses der innerhalb
der einzelnen Stufen nicht fristgemäß vorgebrachten
Rechtsbehelfe für den jeweiligen Rechtszug, wie dies
der frühere preußische Prozeß der Verordnungen vom
21. Juli 1846, 21. Juli 1849 und 27. Juni 1867 und
die ihm folgenden Prozeßgesetze einer Reihe deutscher
Mittel- und Kleinstaaten getan hatten, unter deren
Herrschaft es keine Prozeß Verschleppung gab. Das
*) Vgl. hieiüber meinen Aufsatz in Gruchots Beiträgen Bd. 51»
S. 73 ff.: „Inwiefern empfiehlt es sich, den deutschen Zivilprozeß
nach dem Muster des österreichischen umzubilden?“

Gericht ist dann im voraus in der Lage, darüber zu
befinden, ob es zweckmäßig ist, über ein neues tat-
sächliches Vorbringen der einen Partei den Gegner
mit seinen etwaigen Gegenanführungen und Rechtsbe-
helfen zu hören, und hierdurch sowie durch die je
nach der Art und dem Umfange des Rechtsstreites
verschieden lange Bemessung der Fristen für die Ein-
reichung der einzelnen Schriftsätze wäre auch die not-
wendige Elastizität des Rechtsganges herzustellen.
Auf diesem oder einem ähnlichen Wege wird
der Staatsgedanke auch in der ZPO. der Zukunft
wieder zur gebührenden Anerkennung gebracht werden
können. Wie das im einzelnen zu geschehen
hätte, habe ich an anderen Stellen ausgeführt.

Wie ist den hauptsächlichsten Klagen des
Volkes über den Zivilprozeß abzuhelfen?
Von Reichsgeiichtsrat Dr. Neukamp, Leipzig.
I. Daß lebhafte Klagen des Volkes über das Zivil-
prozeßverfahren bestehen, wird nach der Frage-
stellung des auf dem diesjährigen „Deutschen Richter-
tag“ zur Verhandlung gelangenden Themas ohne
weiteres angenommen. Es bleibt aber zunächst zu
erörtern, auf welche Punkte sich diese Klagen er-
strecken und von wem sie ausgehen. Wenn in der
Fragestellung von Klagen des „Volkes“ die Rede ist,
so muß zunächst darüber Verständigung erzielt werden,
wen man denn hier unter dem Ausdruck „Volk“
zu verstehen hat?
Ich glaube, daß man gut tun wird, die Äuße-
rungen und Reformwünsche der „Juristen“ auszu-
schalten und als Klagen des „Volkes“ nur solche
gelten zu lassen, die von denjenigen Personen er-
hoben werden, welche als Parteien (als „justiciables“,
wie die Franzosen treffend sagen) unmittelbar von
den wirklichen oder vermeintlichen Mängeln der
ZPO. betroffen werden.
Als Äußerungen des „Volkes“ wird man nur
solche ansehen dürfen, die sich teils in Zeitungs-
artikeln, teils in Berichten der Handelskammern
oder sonstiger die Privatinteressen der einzelnen
vertretenden Behörden und Vereine, teils und vor
allem in den Parlamenten Luft gemacht haben, da
unsere Parlamentarier recht eigentlich als Vertreter
des „Volkes“ anzusehen sind.
Eine Durchsicht der Sten. Verh. über die De-
batten zum Etat des Reichsjustizamts für die Etats-
jahre 1909/10, 1910/11 und 1911/12 hat für unser
Thema eine sehr spärliche Ausbeute ergeben.
Der einzige Punkt, der wiederholt1) geltend ge-
macht wurde, ist der, es seien bei dem Verfahren
vor den Zivilgerichten Laien zur Rechtsprechung
heranzuziehen. Alle übrigen Beschwerden bezogen
sich auf die Kriminalrechtspflege und auf die immer
von neuem wiederholte Behauptung, wir besäßen in
Deutschland eine „Klassenjustiz“.
In den Zeitungen und den Berichten der Handels-
kammern wird hauptsächlich über die langsame Er-

9 Sitzungen des Reichstages v. 20. Jan. 1910 und 18. April 1912.

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