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Nummer 16/17. Berlin, den 1. September 1913
22.1.
Abhandlungen
22.1.1.
Richtertag und Anwaltstag
(JR. Dr. Heinitz)
Nummer 16/17.
Berlin, den 1. September 1913.
XVIII. Jahrgang.
Deutsche Juristen-Zeitung.
Begründet von LABAND — STENOLEIN — STAUB.
DR. P. LABAND,
Wirkl. Geh. Rat, Professor.
Herausgegeben von
DR. 0. HAMM, DR. ERNST HEINITZ,
Wirkl. Geh. Rat, Oberlandesgerichtspräsident a. D. Justizrat.
Schriftleiter: DR. JUR. OTTO LIEBMANN.
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Richtertag und Anwaltstag.
Von Justizrat Dr. Ernst Heinitz, Berlin.
Wiederum treten, unmittelbar vor dem Ende der
Gerichtsferien, der Deutsche Richtertag und der
Deutsche Anwaltstag zur Beratung bedeutsamer
juristischer Tages- und Standesfragen zusammen.
Die Formulierung der auf der Tagesordnung
des Richtertages stehenden Fragen zeigt deutlich die
Wandlung der Anschauungen, die sich in den letzten
Jahrzehnten vollzogen hat. Von einem Zusammen-
hänge zwischen der richterlichen Tätigkeit
und der Verbrechensbekämpfung kann auf der
Grundlage des geltenden Strafrechts kaum gesprochen
werden; erst wenn dem Richter bei Anwendung des
Strafgesetzes und insbesondere bei der Strafzumessung
größere Bewegungsfreiheit eingeräumt wird, wenn er
die Strafe und ihre Vollziehung den sozialen Ursachen
und Zusammenhängen des Verbrechens, der Indivi-
dualität des Verbrechers und dem Schutzbedürfnis
der menschlichen Gesellschaft anzupassen vermag, ist
dem Strafrichter die Möglichkeit einer wirksamen Mit-
wirkung bei der Verbrechensbekämpfung gegeben.
Die Arbeiten am Entwurf eines neuen Straf-
gesetzbuchs sind soweit vorgeschritten, daß, wenn
der Entwurf und mit ihm der bereits einmal ge-
scheiterte Entwurf einer neuen StrPO. die parla-
mentarischen Klippen zu umschiffen vermögen, die
Gerichte in etlichen Jahren in der Lage sein dürften,
ihre Kräfte der neuen Aufgabe, zu widmen. Da-
gegen scheint die Frage der Zivilprozeßreform
vertagt zu sein, bis das Schicksal des StrGB. und
der StrPO. entschieden ist. Soweit die Klagen
über den Zivilprozeß, die in der auf die Tagesord-
nung des Richtertags gestellten Frage als Klagen
des Volkes bezeichnet werden, berechtigt sind,
bedeutet der Hinweis auf die zwar nicht unbegrenzten,
aber weitreichenden Möglichkeiten, die das geltende
Gesetz für eine bessere, insbesondere straffere Hand-
habung des Verfahrens gewährt, keine ausreichende
Abhilfe; nachdem seit dem Inkrafttreten der ZPO.
34 Jahre vergangen sind, darf auf eine andere Hand-
habung des Gesetzes schwerlich gerechnet werden.
So wertvoll die vielfachen Versuche sein mögen,
durch einen Appell an Richter, Anwälte und Par-
teien darauf hinzuwirken, daß sie die vom Gesetz
in ihre Hände gegebenen Zügel nicht am Boden
schleifen lassen — zu den anregendsten und be-
deutendsten Versuchen auf diesem Gebiete darf die
jüngst erschienene Schrift des Amtsgerichtsrats
Levin: „Richterliche Prozeßleitung und Sitzungs-
polizei in Theorie und Praxis“ gezählt werden —,
ein dauernder Erfolg wird sich ohne Aenderung des
Gesetzes nicht erzielen lassen. Je rückhaltloser dies
anerkannt werden muß, um so mehr ist freilich vor
einer Uebertreibung der vorhandenen Mißstände und
vor den aus solcher Uebertreibung gezogenen Schluß-
folgerungen zu warnen. Ueber die Frage der Prozeß-
reform ist seit Jahren soviel geschrieben und ge-
sprochen worden, daß die Verhandlungen demnächst
ohne sachlichen Nachteil geschlossen werden könnten.
Sollte Deutschland einen dem Verfasser der österr.
ZPO. geistesverwandten Juristen besitzen, so könnte
er dem deutschen Volke, wenngleich es in seiner Ge-
samtheit dem Zivilprozeß etwas teilnahmloser gegen-
übersteht, als die für den Richtertag gewählte Frage-
stellung vermuten läßt, durch die Schaffung des
Entwurfs einer ZPO. eine köstliche Gabe darbringen.
Die auf der Tagesordnung des Anwaltstags
stehende Frage der Ermittlung der Wahrheit
im Zivilprozeß spottet der gesetzlichen Lösung,
sofern man darunter mehr versteht als das Streben
nach Wahrheit; und bedauerlicherweise trifft weder
für den Zivilprozeß noch für den Strafprozeß das
Lessingsche Wort zu, daß das Streben nach Wahrheit
köstlicher sei als ihr Besitz. Soweit bei der Ermitt-
lung der Wahrheit die Parteien selbst mitzuwirken
haben, handelt es sich um die Frage der Wahr-
heitspflicht, die weder mit der grundsätzlichen