19.3.
Justizstatistik
Berichterstatter: Oberlandesgerichtspräsident Lindenberg, Posen
19.3.1.
Kriminalstatistik für Frankreich im Jahre 1911
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XVIII. Jahrg. Deutsche Juristen-Zeitung. 1913 Nr. 13.
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tionen hervor. Er erzeugt Reibungen. Er führt die
Nationen aber auch zusammen. Er zwingt sie zur
gemeinsamen Ordnung, gemeinsamen Interessen.
Langsam legt sich so das Band der Einheit um
die Nationen.
Das Reichsluftgesetz soll dem Reichstage
noch in diesem Herbste zugehen. Der Entwurf ist
vom Reichsamt des Innern einer Sachverständigen-
kommission nochmals unterbreitet worden. Die
Grundzüge werden durch die Presse bekannt ge-
geben. In dem Entwürfe fehlte die Behandlung
fremder Luftschiffe auf deutschem Boden. Die Vor-
fälle zwischen Deutschland und Frankreich zeigen
die Notwendigkeit dieser Ergänzung.
In Frankreich gibt der Minister der öffent-
lichen Arbeiten einen Gesetzentwurf über die
Regelung des Luftverkehrs bekannt. Die
Prinzipien sind ähnlich denen des in Deutschland
geplanten Gesetzes. Die Behandlung der vom Aus-
land kommenden Fahrzeuge soll im Verwaltungs-
wege geregelt werden. Eine Verständigung hier-
über zwischen Nachbarstaaten erscheint als dringend
notwendig. Auch hier wird das Verlangen der
einheitlichen Regelung nicht lange auf sich warten
lassen. Die Luftschiffe überfliegen die Grenzen mit
und ohne den Willen der Insassen. Die Landes-
grenzen verlieren im Luftreich die Bedeutung. Jede
solche Erleichterung des Zusammenkommens läßt
die trennenden Momente als Störung empfinden.
Nicht mit einem Male wird auch hier ihre Be-
seitigung gelingen. Man darf sich auch keiner
Illusion darüber hingeben, als ob gemeinsame
Rechtsbildungen Differenzen ausschließen. Aber
sie öffnen doch dem Volke die Augen darüber, daß,
wo der gute Wille ist, auch ein Weg zur Verstän-
digung sich findet.
Der Entwurf des ungarischen bürger-
lichen Gesetzbuchs ist in zweiter Redaktion der
Oeffentlichkeit zur Begutachtung vorgelegt1). Man
ist sich in Ungarn der Schwierigkeit bewußt, die
durch die derzeitige Lage des Zivilrechts geschaffen
ist. Sie ist vielfach mit der in den deutschen
Staaten des gemeinen Rechts vor 1900 vergleichbar.
Auch die Art, wie das bisherige Recht in das neue
übergeführt wird, entspricht dem Verfahren, das bei
der Schaffung des deutschen BGB. eingehalten wurde.
Unverkennbar ist auch sonst bei aller Selbständigkeit
der Einfluß des deutschen Gesetzes, namentlich im
Gebiete des Vermögensrechts. Ein Staat, der wirt-
schaftlich im lebhaften Konnex mit den anderen
europäischen Staaten steht, muß notwendigerweise
deren Rechtsideen auf sich einwirken lassen. Mit
dem wirtschaftlichen Verkehr ist der Austausch der
rechtlichen Auffassung untrennbar verbunden.
Rechtsanwalt Dr. Hachenburg, Mannheim.
Justizstatistik.
Berichterstatter: Oberlandesgerichtspräsident
Lindenberg, Posen.
Kriminalstatistik für Frankreich im Jahre 1911.
Durch die Tagespresse gingen jüngst Mitteilungen über die
starke Zunahme der Kriminalität in Frankreich. Geht man
den Zahlen der im Journal officiel veröffentlichten Be-
richte des Justizministers über die Ergebnisse der Straf-
r) Vgl. den Aufsatz Ujlaki S. 785 d. Bl. Die Schriftltg.
rechtspflege im Jahre 1911 auf den Grund, so findet man,
daß allerdings in der Gesamtzahl der vor die Gerichts-
behörden gebrachten Straf fälle und der verurtelten Per-
sonen im Vergleich zum voraufgegangenen Jahre eine
wesentliche Zunahme stattgefunden hat, daß aber diese Zu-
nahme sich auf die leichteren Delikte bezieht, während bei
den schwereren eher eine Abnahme als eine Steigerung
eingetreten ist. Vor den Schwurgerichten (cours
d'assises) sind 2091 Anklagen verhandelt worden gegen
2160 i. J. 1910 und 2252 im Durchschnitt der Jahre 1906
bis 1910, so daß gegenüber dem voraufgegangenen Jahre
eine Abnahme um 69 Sachen oder 3,2% und gegenüber
dem Durchschnitt der voraufgegangenen fünf Jahre eine
solche um 161 Sachen oder 7,1% stattgefunden hat. Die
Zahl der Angeklagten, die vor die Schwurgerichte kamen,
belief sich auf 2963. In 597 Fällen mit 1044 Angeklagten
erfolgte die Freisprechung, so daß im ganzen 35,2% der
Angeklagten freigesprochen wurden. Zum Vergleich sei
bemerkt, daß in Preußen i. J. 1911 von den Schwurgerichten
nur 19,9% aller Angeklagten freigesprochen worden sind.
45 Angeklagte im Alter von weniger als 18 Jahren wurden
außerdem noch mangels der zur Erkenntnis der Strafbar-
keit erforderlichen Einsicht (discernement) freigesprochen,
aber einer Strafkolonie überwiesen. Von den 1874 Ver-
urteilten erhielten 30 Todesstrafe, 86 wurden zu lebens-
länglicher Zwangsarbeit, 344 zu zeitlicher Zwangsarbeit
(darunter 40 auf mehr als 20 Jahre), 386 zu Zuchthaus
(reclusion), 811 zu Gefängnis von mehr als 1 Jahr und
der Rest zu milderen Strafen verurteilt. Von den zu
Todesstrafen Verurteilten sind 8 hingerichtet, die übrigen
22 zu lebenslänglicher Zwangsarbeit begnadigt. Die Straf-
kammern (tribunaux correctionnels) sind für alle nicht
in die Kategorie der Verbrechen gehörenden Straftaten,
auf die mehr als 15 Frcs. Geldbuße oder mehr als 5 Tage
Gefängnis gesetzt sind, zuständig. Bei diesen zum großen
Teil geringfügigen Vergehen usw. zeigt sich im Jahre 1911
eine nicht unbeträchtliche Zunahme. Es wurden 197 955
Sachen abgeurteilt gegen 181 045 i. J. 1910, 181 475 i. J.
1909, 186 122 i. J. 1908 und 182 836 i. J. 1907. Während
also in den Vorjahren die Ziffern sich nicht wesentlich
geändert und seit 1909 sogar eine Neigung zum Sinken
gezeigt hatten, brachte das Jahr 1911 eine plötzliche Er-
höhung um 16 910 Sachen oder 9,3 %• An dieser Zu-
nahme sind der einfache Diebstahl mit nahezu 6000, die
Fischereivergehen mit rund 2000, die Jagdvergehen mit
1900, das Landstreichen mit 1600 beteiligt. Die sehr starke
Zunahme der Diebstähle (um fast 20%) führt der Bericht
des Justizministers einerseits auf „ökonomische und soziale
Ursachen“ zurück, andererseits auf eine bessere und um-
fassendere Organisation der Polizei. Im Vergleich zu un-
serer Kriminalität sind die Diebstähle wie auch viele an-
dere Straftaten recht gering. Während in Frankreich
36 533 einfache Diebstähle zur Aburteilung kamen, betrug
in Deutschland die Zahl der wegen einfachen Diebstahls
Verurteilten im Jahre 1911 95 097. Die Zahl der An-
geklagten belief sich bei den Strafkammern auf
239 251 gegen 218 825 i. J. 1910, ist also um 20 426
gestiegen. Die relative Zunahme war mit 9.3 %
genau dieselbe wie bei den zur Anklage gebrachten Sachen.
Freigesprochen sind nur 14 580 Angeklagte oder 6,1% der
Gesamtzahl, während in Preußen (für das ganze Reich
liegen noch keine Zahlen vor) im Jahre 1911 14,6% der
bei den Strafkammern Angeklagten freigesprochen sind.
Selbst wenn man die 5196 Jugendlichen, die ihren Eltern
oder Dritten überwiesen sind, und die 1852, die in eine
Strafkolonie geschickt sind, zu den Freigesprochenen
rechnet, weil ihnen die zur Erkenntnis der Strafbarkeit
ihrer Handlung erforderliche Einsicht abgesprochen ist,