17.1.5.
Ueber sitzungspolizeiliche Ungebührstrafen
(KGR. Dr. Delius)
677
XVIII. Jahrg. Deutsche Juristen-Zeitung. 1913 Nr. 11.
678
I Instanz (trotz gemischter Besetzung des Gerichts,
Offizialbetrieb und durchgeführter Eventualmaxime)
1—2 Jahre! Und dabei hat sich in den letzten
Jahren das Verfahren ganz ungewöhnlich beschleu-
nigt: In dem Jahr des Eingangs des Antrags wur-
den vom PA. rechtskräftig von 1903—1912 erledigt;
9.1 — 1,9 — 2,2 — 1,9 — 1,1 — 2,3 — 0,96 —
2.2 — 5 — 13,1% der Anträge! Nichtsdestoweniger
waren auch 1912 noch 26,9% der zu erledigenden
Anträge älter als 2 Jahre!1)
Von 1903—1912 hat das Reichsgericht über
525 Patentberufungen entschieden; es bestätigte die
Entscheidungen des PA. in den Jahren 1903—7 in
67% der Fälle und änderte sie in 33% ab; die ent-
sprechenden Ziffern für 1908—12 lauten: 74% bzw.
26%, so daß eine ganz erhebliche Besserung ein-
getreten ist und im Interesse der Industrie und der
Entlastung des RG. gehofft werden kann, die Zahl
der Berufungen werde weiter abnehmen.
Ueber sitzungspolizeiliehe Ungebührstrafen.
Von Kammergerichtsrat Dr. Delius, Berlin.
I. Unabänderlichkeit. Es gehört nicht zu
den Seltenheiten, daß eine Ungebührstrafe sich nach-
träglich als ungerechtfertigt oder als zu hoch be-
messen herausstellt. Darf nun der Richter, welcher
die Strafe verhängt hat, sie niederschlagen oder
ermäßigen? Die Frage ist streitig, sowohl in der
Rechtsprechung wie in der Literatur; ihre Beant-
wortung hängt davon ab, ob die Beschwerde aus
§ 183 GVG. die einfache oder die sofortige ist. Das
bayerische Oberste Landesgericht2), OLG. München3)
und Düsseldorf4) und der II. Strafsenat des Kammer-
gerichts5) halten sie für eine sofortige, während der
I. Zivilsenat des Kammergerichts6) sie für eine ein-
fache erklärt. Ist sie eine sofortige, so bleibt die
Strafe, sofern nicht die Beschwerdeinstanz Remedur
schafft, unabänderlich, es kann nur die Gnade des
Königs helfen. Ein wenig erfreulicher Rechtszustand.
Welche ungeheure Belästigung der Gnadeninstanzen
würde dann die Folge sein. In § 183 GVG. steht
kein Wort davon, daß die Beschwerde eine sofortige
sei. Es mag die Absicht des Gesetzgebers dahin
gegangen sein, sie ist aber im Gesetz nicht zum
Ausdruck gelangt. Die Gesetzesmaterialien haben
keine Gesetzeskraft7). Sowohl die StrPO. als auch
die ZPO. bestimmen jedesmal ausdrücklich, ob die
Beschwerde eine sofortige ist oder nicht, und nur
bei der sofortigen Beschwerde wird in § 577 ZPO.
und in § 353 StrPO. die Ausnahmevorschrift ge-
geben, daß der judex a quo nicht abändern dürfe.
Warum soll die im GVG., einem gleichzeitig er-
*) Dies bestätigt die in dem Gutachten des Verf. zum 30. D. J. T.
(Bd. 1 S. 374) gegebenen Zahlen nebst den Schlußfolgerungen in
vollstem Umfange.
-) Entsch. 1, 97; 2, 140. — s) R. d. OLG. 23, 317.
4) Rheinisch. Arch. 108, 257.
v) Beschl. v. 4. Juni 1909, Johow 38 C 19.
6) Beschl. v. 6. Juni 1900, DJZ. 8. 397.
7) Vgl. Delius, Sitzungspoliz. Befugnisse, 1893 8. 51.
lassenen Gesetze, erwähnte Beschwerde anders ge-
artet sein? Auch der Umstand, daß die Beschwerde
binnen einer bestimmten Frist einzulegen ist, erscheint
nicht geeignet, ihr die Eigenschaft einer sofortigen
auf dem Wege der Interpretation zuzusprechen, zu-
mal Ausnahmebestimmungen einer ausdehnenden
Auslegung nicht fähig sind. Das OLG. Dresden1)
folgert aus der Frist und dem Mangel einer aus-
drücklichen Vorschrift die Unabänderlichkeit der
Entscheidung. Spricht die Vermutung dafür, daß
eine Entscheidung nicht abgeändert werden darf?
Die Frist ist gegeben, damit das Vorkommnis dem
Gedächtnis der Beteiligten nicht entschwindet. Der
II. Strafsenat des KG. sagt:
„Da die nachträgliche Aenderung einer Ungebühr-
strafe im Grunde genommen nur eine erneute Entscheidung
über die Festsetzung und Höhe der Strafe ist, diese aber
außerhalb der Verhandlung erfolgt, kann sie auch nicht
für zulässig erachtet werden. Auch würde der Amtsrichter
die vom Schöffengericht, die Strafkammer die vom Schwur-
gericht verhängte Strafe gemäß §§ 30 bzw. 82 GVG. ab-
ändern müssen, was den Interessen der Rechtspflege zu-
widerlaufen würde.“
Entscheidet nicht das Beschwerdegericht eben-
falls außerhalb der Verhandlung über die Ungebühr-
strafe? Warum entspricht denn § 30 oder § 82
GVG. im übrigen den Interessen der Rechtspflege?
Richtiger Ansicht nach ist die Beschwerde die
einfache, wie sie auch die Prozeßordnungen kennen.
Dann hat der judex a quo, auch ohne daß eine
Beschwerde vor liegt, jederzeit, auch nach Ablauf
der Beschwerdefrist, die Befugnis, von Amts wegen
oder auf Anregung des Bestraften die Entscheidung
über die Ungebührstrafe voll oder teilweise abzu-
ändern2). So verfährt denn auch nach meinen Er-
fahrungen die Mehrzahl der Instanzgerichte beim Vor-
liegen einer Ungebührstrafe, sonst hätte man schon
nach einer Klarstellung im Gesetz gerufen. Hat
das Beschwerdegericht materiell entschieden, so ist
allerdings der judex a quo daran gebunden.
II. Beschwerderecht bei Entscheidungen
des ersuchten oder beauftragten Richters und
des Untersuchungsrichters. Verhängt der Amts-
richter als ersuchter Richter eine Ungebühr strafe,
so ist nicht etwa gemäß § 576 ZPO. (für den Straf-
prozeß fehlt eine entsprechende Vorschrift) die Ent-
scheidung des Prozeßgerichts nachzusuchen, sondern
die Beschwerde geht direkt an das dem ersuchten
Richter übergeordnete Oberlandesgericht. Allerdings
hat das Reichsgericht (Entsch. i. ZS. 68, 66) den
§ 576 ZPO. für anwendbar erklärt, wenn der er-
suchte Richter über einen ausgebliebenen Zeugen
gemäß § 380 ZPO. eine Ordnungsstrafe usw. ver-
hängt hatte. Man muß aber berücksichtigen, daß
die Ausübung der Sitzungspolizei mit dem eigent-
lichen Prozeßverfahren nicht das geringste zu tun hat.
Streit herrscht nun darüber, welche Instanz über
die Beschwerde gegen die Entscheidung eines be-
auftragten Richters befindet.
Der I. Zivilsenat des Kammergerichts steht auf
dem Standpunkt, daß die Beschwerde gegen den
*) Urt. v. 15. März 1906, Sachs. Archiv Bd. 2 S. 142.
2) Vgl. RGEntsch. i. Strafs. 37. 114 n. 43, 229.