15.6.2.
Schuld ohne Haftung im Scheck- und Verlöbnisrecht?
(Prof. Dr. Reichel)
15.6.3.
Zur Anwendung des § 102 ZPO.
(AGR. Hirsch)
577
XVIII. Jahrg. Deutsche Juristen-Zeitung. 1913 Nr. 9.
578
von ungefähr 3,5 bedarf, um die Bevölkerung eines
modernen Kulturstaates überhaupt nur auf ihrer Höhe zu
erhalten. Das Zweikindersystem bedeutet derart im Wett-
streit der Nationen, und für die Selbstbehauptung der
eigenen Nation eine nicht gering anzuschlagende Gefahr,
wenn auch aus dem sozialen Standpunkt mancherlei dafür
anzuführen sein wird.
Für den Juristen kommen an dieser Entwicklung
vor allem die „Mittel“, durch welche sie sich vollzieht, ihre
„Technik“, in Betracht. Diese Technik des „Zweikinder-
systems“ ist im wesentlichen von dreierlei Art: 1. die in
Frankreich heimische Praxis des coitus interruptus, 2. das
moderne Arsenal der Prävention, 3. der Abort. Für den
Kriminalisten hat aber nur der letztere Interesse.
Eine irgendwie zuverlässige Berechnung der Zahl der
Abtreibungen in Deutschland besitzen wir naturgemäß
nicht. Auch außerhalb Deutschlands schwankt sie, man ist
auf Wahrnehmungen der Frauenärzte angewiesen, und deren
Schätzungen gehen stark auseinander. Ich habe, ausgehend
von den Erfahrungen führender Gynäkologen, eine Be-
rechnung für Deutschland versucht. He gar schätzt eine
Abtreibung auf jede achte bis zehnte Geburt, Seitz eine
auf jede fünfte bis sechste. Das wären auf 2 000 000
jährlicher Geburten zwischen 200 000 und 400 000 Aborte,
200 000 wären danach Mindestziffer in Deutschland. Da-
bei ist aber die Zahl der Abtreibungen nach allgemeiner
Annahme im Wachsen. Ein Soziologe, der Berliner Arzt
Goldstein, meint sogar aussprechen zu dürfen, „daß
beinahe alle Frauen dieses Vergehens schuldig sind“. Ich
habe die lebhaftesten Zweifel gegenüber der letzteren
Feststellung geäußert. Ich habe sogar, um nicht der
Uebertreibung geziehen zu werden, mich bereit erklärt,
die immer noch erschreckend hohe Ziffer von 200 000
Abtreibungen zu halbieren. Man gelangt alsdann zu einer
Ziffer, die hinter der Wirklichkeit vermutlich stark zurück-
bleibt. Aber doch würde auch bei solcher Annahme sich
ergeben, daß die strafrechtliche Verfolgung des Aborts
gegenüber der wirklichen Zahl der Fälle keine Rolle in
Deutschland spielt. Wohl greift die strafrechtliche Ver-
folgung des Aborts in Deutschland in sehr viel mehr Fällen
Platz als gemeinhin im Ausland, beispielsweise in Frankreich
und in England. Trotz alledem scheinen die Verhältnisse bei
uns so zu liegen, daß einige Unglückliche, denen gegenüber
das Auge des Gesetzes zufällig wachsam war, aus einer
großen Zahl Schuldiger „herausgefischt“ werden, um einer
Strafe unterworfen zu werden, die, wird auch das ge-
ringste Strafmaß gewählt, angesichts der Tatsache, daß die
überwiegende Mehrzahl der Schuldigen straffrei ausgeht,
kaum als milde bezeichnet werden kann. Höchstens fünf
Abtreibungen auf 1000 werden in Deutschland straf-
rechtlich verfolgt. Dem Kriminalisten, der ja gleichzeitig
Soziologe ist, ist nun die Frage aufgegeben, ob eine
strengere Ahndung dieses Vergehens am Platze ist. Ich
komme in meinen Arbeiten nicht zu diesem Schlüsse,
soweit die Person der Abtreibenden selbst in Frage
kommt; ich gebe der Befürchtung Ausdruck, daß damit
mehr geschadet als genützt werden könne. Dagegen be-
zeichne ich es als angebracht, wie auch von anderer Seite
bereits mehrfach vorgeschlagen, jede direkte und indirekte
Anreizung oder Anlockung zur Abtreibung unter Strafe
zu stellen. Ich bin allerdings genötigt zuzugestehen:
„Leicht wird die Durchführung auch einer solchen Be-
stimmung nicht sein. Denn über diese Dinge wird heute
ganz harmlos zwischen Frau und Frau gesprochen, und
was da Anreizung und Anlockung ist, das festzustellen ist
auch für den Kriminalisten keine leichte Aufgabe. Und
wovor wir uns hüten müssen, ist eine moderne Inquisition
auf diesem heikelsten aller Gebiete“.
Diese Ausführungen lassen die Unsicherheit erkennen,
die denjenigen, der sich nicht Berufskriminalist nennen
kann, in der Beurteilung der möglichen Mittel strafrecht-
licher Verfolgung und des Kreises, auf den sie sich er-
strecken soll, befällt. Strafrechtler haben, soviel ich sehen
kann, bisher nur vereinzelt zu der Frage das Wort er-
griffen, allerdings sind einige sehr namhafte darunter. Aber
auch sie haben sich zu einer Zeit geäußert, wo das Material
zum Teil noch anders geartet war als heute, d. h. wo der
Soziologe im Kriminalisten noch nicht einer so ernsten Er-
scheinung, wie es der Geburtenrückgang unserer Tage ist,
gegenüberstand. Von seiten der Soziologen unter den
Volkswirten müßte es wärmstens begrüßt werden, durch
sachverständige Aeußerungen aus kriminalistischen Kreisen
größere Klarheit für die Beurteilung des Problems zu ge-
winnen. Insgesamt haben aber diese Ausführungen zum
Zwecke, überhaupt die Aufmerksamkeit juristischer Kreise
auf die Frage des Geburtenrückgangs zu lenken, in der
Ueberzeugung, daß nicht als letzter der Jurist lebhaft an
ihr7 interessiert ist.
Geh. Reg.-Rat, Professor Dr. Julius Wolf, Breslau.
Schuld ohne Haftung im Scheck- und Ver-
löbnisrecht? Die Rechtslage des Scheckbezogenen und
des Verlobten konstruiert Privatdozent Dr. Schreiber
S. 339, 1913 d. Bl. als Fälle einer Schuld ohne Haftung.
Dies scheint mir unrichtig.
1. Der Scheckbezogene ist nicht Schuldner. Er ist
dies ebensowenig, als der Wechseltrassat, der nicht an-
genommen, dem Inhaber, oder als der Erfüllungsübernehmer
dem dritten Gläubiger etwas schuldet. Wenn der Verfasser
die Gläubigerstellung des Scheckinhabers lediglich daraus
herleitet, daß ihm die Honorierung des Schecks „in Aus-
sicht gestellt“ sei, so ist dies offenbar unbeweglich. —
Wäre der Scheckbezogene Schuldner, so könnte er den
Inhaber durch Aufrechnung befriedigen1). Daß der In-
haber gegen ihn aufiechnen könnte, würde wohl auch
Schreiber verneinen2).
2. Das Verlöbnis begründet keine Verpflichtung zur
Eheschließung, auch keine „unklagbare“, „naturale“ oder
„haftungslose“. Die Eheschließung als Gegenstand einer
schuldrechtlichen Leistung zu behandeln, wäre unmoralisch.
Auch der Gesetzgeber hat dies gefühlt: man vergleiche
§ 1297 Abs. 2 mit § 344 BGB. Die §§ 1298, 1299 können
einen Gegengrund nicht abgeben3). Auch die Deduktion
Schreibers widerlegt diesen Standpunkt nicht. Die von
ihm diskutierte Frage nämlich, ob das Verlöbnis ein Ver-
trag sei, dessen Abschluß Geschäftsfähigkeit voraussetzt,
hat mit dem thema probandum, ob das Verlöbnis Schuld-
pflichten — mit oder ohne Haftung — erzeuge, offenbar
nichts zu tun. Was Schreiber hinsichtlich der Anwendbar-
keit der §§ 107 ff. auf nicht haftungsbegründende Schuld-
verträge sagt, ist unrichtig.
Die weiterer Abklärung noch bedürftige Lehre von
Schuld und Haftung wird hiernach durch die Heranziehung
der von Schreiber behandelten 2 Figuren nicht gefördert.
Ja, die Frage sei gestattet, ob nicht der von ihm adoptierte
Begriff der „Gläubigerschuld“ dazu angetan ist, die
Orientierung* zu erschweren.
Professor Dr. Reichel, Zürich.
Zur Anwendung des § 102 ZPO. Auf S. 1521,1912
d. Bl. vertritt Oberrichter Dr. Grusen die Ansicht, daß
!) Vgl. Reichel, Aufrechnungsbefugnis des Scheckbezogenen,
LZ. 1913. 97.
2) Vgl. Reichel, Unklagbare Ansprüche (1911) S. 14 und die
dort angef. Literatur.
3) Unklagbare Ansprüche S. 17 flg., wo das ganze Problem näher
erörtert ist.