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XVIII. Jahrg. Deutsche Juristen-Zeitung. 1913 Nr. 4.
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wenig der Umstand, daß der Lohn nicht ausreicht,
um dem Arbeiter das Existenzminimum befriedigend
zu gewährleisten. In Zeiten sinkender Konjunktur,
gedrückter Preise ist der Arbeitgeber vielfach gar
nicht in der Lage, den Arbeitern den objektiv an-
gemessenen, sie vor Hunger vollauf schützenden
Lohn zu zahlen: eine rechtliche oder moralische
Pflicht dazu würde ihn in solchen Zeiten in den
Bankerott treiben oder zum Stillegen seines Werkes
zwingen können. Und wie oft liest man heute von
Notstandsarbeiten, an deren Übertragung der
Arbeitgeber meist ein vorwiegend altruistisches
Interesse hat. Wenn ich einen beschäftigungslosen
Arbeiter auf seine Bitten mit Gartenarbeiten be-
schäftige, die ich ebensogut selbst oder durch mein
Personal verrichten lassen könnte, so kann mir selbst
der strengste Altruismus nicht zumuten, ihm dafür
unterschiedslos den „angemessenen“, „ortsüblichen“
oder auch nur den dem Existenzminimum vollauf ent-
sprechenden Lohn zu zahlen. Die „Vermögens-
vorteile“, die der Arbeitgeber sich für den ver-
sprochenen „Hungerlohn" versprechen läßt, stehen
in solchen Fällen für ihn, für sein doch offenbar
maßgebendes Sonderinteresse eben nicht in jenem
„auffälligen Mißverhältnisse zur Leistung", wie es
die Anwendung des Wucherparagraphen erfordert.
Das eigene Interesse des Arbeitgebers an der Arbeit
bildet offenbar die Grenze, über die bei der Lohn-
bemessung hinauszugehen er von Rechts und Moral
wegen keinenfalls verpflichtet ist; wer nicht darunter
geht, verdient niemals den Vorwurf einer „Aus-
beutung" fremder Notlage, auch wenn er den Ar-
beiter damit nicht sättigt. Es kann somit leicht
kommen, daß auch ein sogenannter „Hungerlohn"
der Verbindlichkeit des Arbeitsvertrages nicht im
Wege steht. Alsdann vermag dessen Vereinbarung
dem Arbeiter auch nie einen Schadensersatzanspruch
nach BGB. §826 zu verleihen. Denn derselbe Gesichts-
punkt, der den Vertrag als nicht wucherisch, nicht
gegen die guten Sitten im Sinne des § 138 ver-
stoßend erscheinen läßt, hindert zugleich seine
Moralwidrigkeit auch im Sinne des § 826.
3. Wie aber im umgekehrten Falle, bei
wucherischem Charakter des vereinbarten „Hunger-
lohnes?"
a) Der Ersatzanspruch aus § 826 wird auch
dann keineswegs immer zum Ziele führen. Zugegeben,
daß die Ausbeutung im Sinne des § 138 unterschieds-
los zugleich einen „Verstoß gegen die guten Sitten“
darstellt — eine Frage, die im allgemeinen bejaht
werden dürfte —, fehlt es doch meist an dem Er-
fordernis der Schadenszufügung, der unerläß-
lichen Voraussetzung aller Deliktsansprüche. Denken
wir uns den wucherischen Arbeitsvertrag weg, so
wäre der Arbeiter gerade wegen der obwaltenden
Notlage vermutlich überhaupt nicht angestellt worden,
hätte also ökonomisch sich noch schlechter gestanden.
Ist er aber, trotz ander weiter Arbeitsgelegenheit, blind-
lings auf das wucherische Lohnansinnen eingegangen,
so trifft ihn am Eintritt des Schadens ein vollge-
rütteltes Maß von konkurrieren dem Verschulden,
das seinen Anspruch gemäß BGB. § 254, sei es herab-
mindern, sei es, in extremen Fällen, selbst aus-
schließen wird.
So bleiben für eine unverkürzte Ersatzpflicht
fast nur die Fälle übrig, wo der Arbeitgeber den
Arbeiter unter Ausbeutung des Leichtsinns oder
der Unerfahrenheit zu einem „Hungerlohn“ an-
stellt und dadurch zugleich am Erlangen einer besseren
Anstellung hindert. Das wird für die Zeitdauer, durch
die der Arbeiter den nichtigen Vertrag tatsächlich
durchgehalten und daher kein anderes Brot gefunden
hat, einen Anspruch auf angemessenen Lohn unter
dem Gesichtspunkt des Schadensersatzes zu recht-
fertigen vermögen.
b) Vollständig widersprechen muß ich da-
gegen dem Versuche von Jacobsohn, mit dem
Vertragsanspruch (§ 612) aushelfen zu wollen:
„Eine Vergütung gilt als stillschweigend vereinbart,
wenn die Dienstleistung den Umständen nach nur gegen
eine Vergütung zu erwarten ist.“
„Ist die Höhe der Vergütung nicht bestimmt, so ist
bei dem Bestehen einer Taxe die taxmäßige Vergütung, in
Ermangelung einer Taxe die übliche Vergütung als ver-
einbart anzusehen.“
Es kann nicht meine Aufgabe sein, den wahren
Sinn dieser schwierigen und oft behandelten Vor-
schrift hier festzustellen. Denn welcher Auffassung
man auch immer den Vorzug gebe — Jacobsohns
Lehre hält keiner davon stand. Entweder ist § 612
nur eine sog. Auslegungsregel oder, wie andere
wollen, eine Vermutung in materiellrechtlichem
Sinne — dann muß er hinter den Nachweis eines
anderweiten Parteiwillens zurücktreten. Und ein
solcher Nachweis läßt sich in den hier unterstellten
Fällen immer erbringen. Der Arbeitgeber hat den
Willen nicht nur gehabt, sondern auch in aller Form
erklärt, nicht mehr als den ausbeuterischen Lohn
zahlen zu wollen. Diese Erklärung ist allerdings als
wucherisch rechtsunwirksam, behält aber darum
doch ihre Bedeutung als tatsächliches, unbedingt
schlagendes Beweismittel dafür, daß der ange-
messene Lohn nicht geschuldet sein solle — und
vor dieser anderweiten Willenswirklichkeit muß
die bloße Willensvermutung die Segel streichen.
Nun sprechen allerdings gewichtige Gründe
gegen die Annahme, daß in § 612 — und den gleich-
gelagerten Fällen der §§ 632, 653, 689 — bloße
Auslegungsregeln zu finden seien. Wohl die meisten
finden darin derzeit dispositive, besser ergänzende
Rechtssätze. Die Pflicht zur Leistung des ange-
messenen Lohnes beruht danach nicht auf einem
zu unterstellenden Parteiwillen, sondern auf der
Vorschrift des Gesetzes, die nur dann nicht zur An-
wendung kommt, wenn ein anderes vereinbart ist.
Der Unterschied dieser Auffassung von der
obigen beruht, von anderen Punkten abgesehen, für
mein Thema in folgendem1): Der ergänzende Rechts-
satz über die Entlohnung wird erst dann unanwend-
bar, wenn eine zweiseitige und rechtswirksame
anderweite Abrede nachweislich vorliegt. Da nun
i) Hier zeigt sich der neuerdings, m. E. sehr mit Unrecht, be-
strittene Gegensatz zwischen Auslegungsregeln und ergänzenden
Sätzen in voller Schärfe. Darüber an anderer Stelle mehr. -