108 Gierke, das deutsche Genvssenschaftsrecht.
geht, die Stadt. Daß aus dem Sprachgebrauch der Quellen die von
Gierte behauptete Nechtsauffassung nicht mit Sicherheit zu ent-
nehmen, geht aus seiner eigenen, von mir oben wiedergegebenen
Aeußerung hervor.
Mit der Willensfähigkeit fällt auch die Delictsfähigkeit. Die
Unmöglichkeit der Annahme einer solchen ergibt sich aber auch aus
der Art und Weise, wie sich Gierke die Begehung von Verbre-
chen durch die Stadt denkt. Wie können die „städtischen Organe
innerhalb ihrer Machtsphäre" eines Verbrechens sich schuldig ma-
chen, da doch Vergehen nicht durch die städtische Verfassung in die
Machtsphäre der Organe ausgenommen werden können, die Per-
sonen daher, welche das Organ bilden, sofort außerhalb der Macht-
sphäre ihres Organs handeln müssen, sobald sie ein Delict begehen.
Wenn die mittelalterlichen Quellen in einer Weise sich ausdrücken,
die von einer gegen die Städte einschreitenden Strafgewalt ver-
standen werden kann, so hat das doch keine andere Bedeutung, als
wenn man heutzutage den Krieg eine Strafe nennt, welche gegen
den den Frieden brechenden Staat verhängt wird. Allerdings wird
nicht selten auch noch im späteren Mittelalter eine Verpflichtung der
Stadt statuirt, wegen Vergehen ihrer Glieder Schadensersatz zu leisten,
Allein wenn abgesehen von solchen Fällen (wo es sich doch um
civile Verbindlichkeiten handelt), eines gegen Städte gerichteten ge-
richtlichen Verfahrens Erwähnung geschieht, so haben wir hierin
lediglich die Form zu suchen, in welche die von der höheren Ge-
walt beliebte Anordnung politischer Zwangsmaßregeln gegen die
Stadt gekleidet wurde.
Das Verhältniß der Stadtpersönlichkeit zu der sie bildenden
Gesammtheit will Gierke ausdrücken durch die Bezeichnung der
ersteren als „selbständiger und immanenter Einheit".
Durch erstere Eigenschaft soll sich die Stadt von der alten Genos-
senschaft unterscheiden. Sie besteht darin, daß die Stadt als Gan-
zes „begrifflich verschieden von der Summe der Theile" ist und
Zweck und Grund ihres Lebens zunächst in sich selbst trägt. Im
öffentlichen Recht wird dieselbe daher zum wirklichen Staat und
erscheint den Einzelnen gegenüber als höhere Willensordnung, im
Privatrecht wird sie zur selbständigen Person mit Rechten und