Gautschi, Beweislast u. Beweiswürdigung bei freiem richterl. Ermessen. 725
scheu Lehre waren selbst ihre Anhänger in der näheren Begründung
nicht einig. Präsumptionen-, Fortdauer-, Negativen-, Spezial-, Kausal-,
Minimal-Theorie usw. sind Bezeichnungen für die verschiedenen Er-
klärungsversuche.
Seit der Einführung des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung
sind viele geneigt, allen Theorien über die Beweislast den Laufpaß zu
geben, indem sie die Lehre von der Beweislast mehr oder weniger als
gegenstandslos geworden ansehen (vgl. hiergegen Brodmann, Archiv für
zivilistische Praxis 98, 148). Auch Gautschi wendet sich gegen eine
solche Auffassung. Er erkennt die Berechtigung der an der alten Lehre
geübten Kritik an, fürchtet aber unerfreuliche Resultate, wenn über Ver-
teilung der Beweislast und Stärke der Beweisführung freies richterliches
Ermessen gelten soll, ohne daß von der Wissenschaft der Freiheit wieder
Schranken gezogen werden. „Darum darf die Wissenschaft nicht müßig
sein und die Lösung der Frage dem Richter allein überlassen, sondern
sie soll die leitenden Gesichtspunkte des Beweisrechts feststellen, sie nach
allgemeinen Ideen gruppieren und die Gruppe zu einem Systeme ver-
einigen."
Der Verf. entwickelt nun ein neues System, indem er an den
Jheringschen Zweckgedanken anknüpft. „Die Theorie der Zweckanalyse"
will die Zweckelemente in ihrer gegenseitigen Verbindung und in ihrem
gegenseitigen Kampfe darstellen. „Die einzelnen Zwecke werden als
Kräfte gedacht, die in abwechselnder Stärke sich fördern und bekämpfen
und aus denen sich als Resultate die konkrete Entscheidung ergibt." Die
Zweckmomente sind das Äquivalenz-, das Humanitäts-, das Potestativ-,
das Schuld-, das Wahrscheinlichkeits-Moment, das prozeßhindernde
Moment, das logische Moment, „andere Momente" und schließlich
Teilung des Streitobjekts.
Der theoretische Teil der Arbeit umfaßt nur 37 Seiten, während
die letzte Seite des ganzen Textes die Nummer 534 trägt. Es ist nicht
angängig, den Wert des Buches endgültig zu beurteilen, bevor man
durch längere Übung in der Praxis erprobt hat. wie sich die Gedanken
des Verf. im einzelnen bewähren. Zn dem speziellen Teile bespricht
der Verf. mehr als 1000 Rechtsfälle unter stets fortschreitender Ent-
wickelung seiner grundlegenden Gedanken. Da dem Buche ein sorg-
fältiges Sachregister beigegeben ist, wird es zweifellos auch in der
Praxis sehr oft zu Rate gezogen werden und auf die Weitergestaltung
der Lehre von der Beweislast und der Beweiswürdigung einen starken
Einfluß auszuüben vermögen. Der Verf. zeigt uns ein juristisches
Parallelogramm der Kräfte, er geht aus von der Mehrheit und dem
Widerstreite der Ideen und sucht deren Kreuzungs- und Vereinigungs-
punkt, wie er selbst sagt: „gewiffermaßen also das getrennt marschieren
und vereint schlagen^ in der Jurisprudenz".
Ob diese Theorie als solche Anerkennung finden wird, erscheint
zweifelhaft, da schließlich doch alles wieder von dem richterlichen Er-
messen abhängen wird. Jedensalls aber wird die gedankenvolle und mit
den reichsten Früchten des Fleißes ausgestattete Arbeit dazu beitragen,