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weder im Kreise derer, die das Strafgesetzbuch zu handhaben berufen sind, noch
unter den Laien, welche ein Urtheil über diese Frage haben, schon lange kein
Zweifel mehr. — Zu den einer Vervollkommnung bedürfenden Vorschriften
des Strafgesetzbuchs gehören namentlich auch die, durch den Reichstag er-
heblich verböserten Vorschriften über die sogenannten Antrags-Delicte. Und
die Mängel gerade dieser Materie des, im Großen und Ganzen und mit
vollem Rechte so freudig und beifällig aufgenommenen Gesetzes, welches sich
ja auch übrigens während der mehrjährigen Dauer seiner Geltung als zeit-
gemäß bewährt hat, sind vielfach sowohl in der Tagespresie als auch in be-
sonderen Schriften beleuchtet und Vorschläge für ihre Beseitigung gemacht
worden. Abgesehen von dem schon 1872 erschienenen Werke von Fuchs:
„Anklage und Antrags-Delicte" und demjenigen von Reber: „Die Antrags-
Delicte des deutschen Strafrechts," wovon inzwischen die zweite Lieferung in
München bei Stahl erschienen ist, so wie einigen anderen Monographien, —
dient ausschließlich diesem Zwecke eine, im März d. I. in den Nummern 77
und folgende der Kölnischen Zeitung veröffentlichte und, obschon unverkennbar
von einem Juristen, so doch nicht ausschließlich für Fachmänner, sondern,
was ganz besonders anzuerkennen, für den gesammten Kreis der Leser einer
großen Tages-Zeitung geschriebene Abhandlung: Die Antrags-Delicte deS
Reichs-Strafgesetzbuchs von Dr. H. M., welche vor dem Geschicke des Ver-
geffenwerdens, das den Artikeln eines, wenn auch noch so bekannten und
verbreiteten Tageblattes nur zu oft droht, bewahrt zu werden gar wohb
verdient. —
Auch das uns vorliegende Buch handelt am Schluffe von den „ma-
teriellen und formellen Mängeln der zeitigen Antragsberechtigungen" und
bietet „Gesichtspunkte für deren Abstellung." Und diese beiden letzten Abschnitte
(XII. und XIII.) des Werkes werden durch die Bemerkung (S. 78) eingeleitet,
„daß die Antrags-Delicte durch die quantitative und qualitative Ausdehnung,
welche sie in dem R. Str.-G.-B. gewonnen haben, dem älteren Preußischen
Strafrechte gegenüber aus einem weniger beachteten Stillleben heraus in den
Vordergrund der criminellen Praxis getreten sind. Nach dem Anträge wird
jetzt fast in jeder Sitzung eines Strafgerichts gefragt und über dessen Vor-
aussetzungen gestritten. Die Ausdehnung der Antragsberechtigung auf alle
Beleidigungen und Mißhandlungen, auf Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung
und alle Diebstähle, Unterschlagungen und Betrügereien der Lohn- oder Kost-
Nehmer macht die Officialthätigkeit des Staatsanwalts in der praktischen Er-
scheinung fast zur Ausnahme." Denn während das frühere Preußische Straf-
gesetzbuch nur 10, das Bairische 19 Fälle von Antrags-Delicten kannte,
enthält das neue R.-Str.-G.-B. deren 26, und namentlich gehören zu den-
selben auch einige schwere Unzuchts-Verbrechen. Besonders für diese verlangt
der Verfaffer eine Aenderung des bestehenden Rechts, und zwar aus einem
doppelten überzeugenden Grunde. Denn einmal hat bei diesen Verbrechen'
das öffentliche unzweifelhaft eine höhere Bedeutung wie das Familien-Jntereffv,
ganz zu schweigen von dem widerlichen, verwerflichen Schacher, welcher sich
nur zu häufig um die Zurücknahme des Antrags erhebt und die Straflosigkeit
zu einem Privilegium des reichen Wollüstlings macht. Zum Andern aber
zeigt sich vornehmlich bei diesen Verbrechen die Lücke des Gesetzes für den
Fall der Identität des Thäters und des zum Strafantrage berechtigten Ver-
Beiträge. XVIII. (N. F. III.) Jahrg. 6. Heft. 57