374
Dove:
den Begriff des delictum publicum viel weiter faßte, als etwa den
der handhaften That, und unmöglich Demjenigen die Wehre voll-
ständig abschneiden konnte, gegen welchen etwa nur eine von seinen
Hausgenossen dem Umfrage haltenden Landdekane geschehene Anzeige
vorlag,, vervielfachen mußten sich aber die Fälle, in denen die
Schuldfrage zweifelhaft erschien, seitdem jene Scheidung der delicta
'publica und occulta aufgehört hatte für das Sendgericht von Be-
deutung zu sein und die Nügepflicht des Sendzeugen allgemein auf
jede Kunde eines geschehenen Verbrechens ausgedehnt würde. In-
dem man aber nun bei zweifelhafter Schuldfrage wohl mit einziger
Ausnahme des Zweikampfes zu den nämlichen Beweismitteln griff,
welche in dem weltlichen Gerichte angewendet wurden, führte dies
naturgemäß darauf, daß man auch die dort hergebrachten Vor-
stellungen von der Bedeutung dieser Beweismittel für die Partei
Übertrug. Diese Beweismittel, der eigene Eid, die Hilfe der Ge-
nossen (Eidhelfer), endlich der die Unschuld beschützende Gott stehen
jedem redlichen, rechtlichen Manne nach der Ansicht der Zeit zu
Gebot. Indem also Eid, Eidhelfer und Gotteöurtheil in den Send-
gerichten angewendet wurden, lag es nahe, daß man in ihnen ebenso,
wie im weltlichen Gericht, den Beweis als einen Vortheil betrachtete.
Bei jener materiellen Uebereinstimmung in den Beweismitteln, welche
beide Arten des germanischen Gerichts aufweisen, würde eine Ver-
schiedenheit in der Grundanschauung des Beweises überhaupt geradezu
widernatürlich erscheinen. Galt der Beweis aber als Vortheil,
dann gebührte er regelmäßig Demjenigen, welchen das Recht als
den Begünstigten hinstellte, also dem Bezüchtigten.
6. Das Sendurtheil.
Lag, wie wir gezeigt haben, dem Beklagten für den Fall, daß
er die Schuld leugnet, die Pflicht ob, entweder die Buße zu über-
nehmen oder sich zu reinigen, so entspricht es dem Charakter des
gesammten Verfahrens, daß das auf die Antwort des Bezüchtigten
von dem Richter zu fragende Urtheil diese doppelte Auflage
aus spricht. Wir sind im Stande, die Fassung eines solchen
Sendurtheils durch eine einfache Operation herzustellen.
Die uns erhaltenen Urtheile weltlicher Gerichte aus dieser
Periode 98) geben uns nämlich ein deutliches Bild davon, in welcher
S8) Siegel a. a. O. S. 153 ff.