10.
Literatur
10.1.
Stein, das private Wissen des Richters
(Landgerichtsdirektor Fuchs in Bautzen)
254
Literatur.
Literatur.
i.
Besprechungen.
Das private Wissen des Richters. Untersuchungen zum Beweisrecht beider Prozesse.
Von vr. Friedr. Stein, ao. Prof, der Rechte in Leipzig. Leipzig, Verlag von C. L.
Hirschfeld. 1893. Preis 4 Mk.
Die Arbeit knüpft an die in diesem Archiv Bd. 2 S. 265 flg. veröffentlichte Abhand-
lung Schmidt's „die außergerichtlichen Wahrnehmungen des Prozeßrichters" an; sie will die
Grenzen des in dem Satze „judex judicet secundum allegata et probata partium“ ausge-
drückten Verbots näher bestimmen.
Jede Thatsachenbehauptung ist ein Urtheil, Ergebniß einer Schlußfolgerung aus
Ober- und Untersatz. Die Obersätze — allgemeine Erfahrungssätze — sind ihrem Begriffe
nach Definitionen oder hypothetische Urtheile allgemeinen Inhalts, vom concreten Fall und
seinen einzelnen Thatsachen — den Untersätzen — unabhängig, aus der Erfahrung genommen,
aber selbständig gegenüber den Einzelfällen, aus deren Beobachtung sie . durch Induktion ab-
gezogen find und über die hinaus sie für neue Fälle Geltung beanspruchen. Sie spielen im
Prozeß überall eine Rolle bei der Würdigung der Beweise und der Indizien, bei der Aus-
legung, bei der Aufstellung von Berechnungen, bei der Urtheilsfindung. Trotzdem sind sie
in der Wissenschaft seither zu kurz gekommen und namentlich nicht hinreichend von der Be-
handlung der bloßen Einzelthatsachen getrennt gehalten worden.
Dem Richter find sie theilweise auf Grund seines eignen Urtheils bekannt, namentlich
wenn es sich darum handelt, ob etwas üblich, gewöhnlich, gebräuchlich sei. Andernfalls ver-
schafft er sich von ihnen auf irgend eine Weise Kenntniß, insbesondere durch Sachverständige.
Diese liefern ihm stets die Obersätze, auch wenn sie ihr Gutachten in die Form der fertigen
Subsumtion kleiden, und unterscheiden sich dadurch von den lediglich Untersätze liefernden
Zeugen; nur wenn sie vom Richter mit seiner Vertretung in Bezug auf die Wahrnehmung
beweisbedürftiger Thatsachen beauftragt werden, geben sie zugleich den Bericht über die letz-
teren, ohne deshalb übrigens Zeugen zu werden. Ueberall aber, wo sie eine Subsumtion
vornehmen, üben sie eine Thätigkeit aus, die an sich Richteraufgabe ist und in der sie den
Richter entweder unterstützen oder vertreten.
Abgesehen von einer geringen Minderzahl von Fällen (vergl. 88 698, 599 der C.P.O., -
88 87 , 91, 241 der St.P.O.) darf der Richter im Prozesse seine Kenntniß allgemeiner Er-
fahrungssätze frei verwerthen. Das gilt insbesondere auch für das Revistonsgericht; jede —
auch tatsächliche — Subsumtion, die im untergerichtlichen Urtheile enthalten und für den
schließlichen Ausspruch causal ist, sofern ihr Ergebniß nicht die Festellung einer nackten That-
sache betrifft, sondern den juristischen Ausspruch zum Ziele hat und sich als eine Hülfsoperation
zu demselben darstellt, ist der Nachprüfung des Revisionsgerichts zugänglich.
Irriger Weise hat man seither den Begriff der Notorietät hier mit einspielen lasten.
Die Notorietät bezieht sich nämlich gar nicht auf diese allgemeinen Erfahrungssätze, sondern
nur auf concrete Einzelthatsachen; diese sind, übrigens stets nur in ihren allgemeinen Um-
rissen offenkundig, wenn sie so allgemein wahrgenommen oder ohne ernstlichen Widerspruch
verbreitet werden, daß ein verständiger und lebenserfahrener Mann sich ebenso davon über-
zeugt erklären kann, wie der Richter im Prozeß auf Grund einer Beweisaufnahme, gerichts-
kundig aber, wenn sie in eignen amtlichen Handlungen des Richters bestehen oder den Ge-
genstand seiner amtlichen Wahrnehmung gebildet haben.
Bei der Ermittelung des geltenden Rechts endlich kann der Richter sein Wiffen gleich-
falls unbeschränkt verwerthen.