Literatur
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Luthertum hat sich hiervon frei gemacht und ist zu einer Gesellschafts-
lehre gelangt, welche „die Züge einer herzlichen und innig kräftigen,
aber hausbackenen und spießbürgerlichen Landesväterlichkeit trägt"
(8. 570). Der Einfluß des Luthertums auf den Staat besteht darin, daß
es dem territorialen Absolutismus den Weg geebnet hat; mit dem
modernen Staat hat es nur durch Vermittlung des Absolutismus zu tun
(8. 599, 600).
Das Luthertum wurde bald weit überflügelt durch den Kalvinis-
mus, der heute „die eigentliche Hauptmacht des Protestantismus“ dar-
stellt. Er unterscheidet sich vom Luthertum durch seine kräftige
Initiative, in der organisatorischen Kraft und insbesondere in „der
Fähigkeit, mit seiner religiösen Idee auf die politischen und wirtschaft-
lichen Entwicklungen der westlichen Völker eingehen zu können44
(S. 605). Aus der Analyse des religiösen Sondergehaltes des Kalvinismus
entwickelt T. wiederum sehr anschaulich und ansprechend den Kirchen-
begriff, die Ethik und das Sozialideal dieser protestantischen Sonder-
konfession (S. 609—67). Wiederum begegnet uns die Vorstellung des
einen Corpus christianum: ein einheitliches Ganze, das in weltlichen
und geistlichen Dingen von einem gemeinsamen Ideal beseelt ist, eine
Zusammenordnung der weltlichen Obrigkeit mit der von ihr unab-
hängigen Kirche in gemeinsamer Bindung an das Wort (S. 667); tat-
sächlich wurde so der Staat der Kirche Diener. Die Glaubenseinheit
wird durch staatlichen Zwang hergestellt und erhalten. Diese enge
Zusammenfassung von Kirche und Gesellschaft hat dann wieder ihre
Rückwirkungen auf das Sozialideal des Kalvinismus geübt: das zeigt
sich an dem demokratisch-konstitutionellen Zuge des Kalvinismus.
Volkssouveränität, Revolutionsrecht und konstitutionelle Bindung der
Obrigkeit ist der Inhalt der Staatslehre von Beza, des Nachfolgers und
Jüngers Kalvins, die noch rücksichtsloser von John Knox und der
schottischen Schule vertreten wird. Als politisches Ziel hat nach Knox
zu gelten, „daß Fürsten und Untertanen beide Gott gehorchen“. Wäh-
rend Althusius noch mit einem Fuße im Geleise kalvinistischen Denkens
steht, sind Hugo Grotius, Locke, Hobbes nur mit großer Vorsicht mit
dem Kalvinismus und dem christlichen Naturrecht desselben in Ver-
bindung zu bringen.
Das Freikirchentum des späteren sog. Neukalvinismus hat die alte
Idee von dem einheitlichen staatlich-kirchlichen Lebensganzen auf-
gelöst und die Trennung von Kirche und Staat angebahnt; dem reli-
giösen Subjektivismus entspricht die Verwerfung des Glaubenszwanges
und die Duldung anderer Konfessionen. Die Anfänge dieses dem Wesen
des Kalvinismus widersprechenden Freikirchentums sind zu suchen im
Kongregationalismus, dessen Vater Robert Browne die Grundsätze einer
Trennung vom Staate, einer Fernhaltung von aller weltlichen Gewalt,
eines ausschließlichen Vertrauens auf die bloße innere Macht des Geistes
verkündete. Das Freikirchenprinzip ist dann auch in echt kalvinistische
Kreise eingedrungen, wozu die konfessionelle Mischung der Bevölke-
rung und die fortschreitende Laizisierung des Staates veranlaßten.