5.
Gratian und die Eigenkirchen
Stutz, Ulrich
I.
Gratian und die Eigenkirchen.
Von
Ulrich Stutz.
Die Geschichte liebt es bisweilen, gleich der Natur die
Anfänge neuen Lebens in schützendes Dunkel zu hüllen.
Wenige Ereignisse haben auf dem Gebiete der Geistes-
geschichte einen so tiefen Einschnitt gemacht, wenige aber
auch den äußeren Gang der Dinge so nachhaltig beeinflußt
wie die Geburt der Kanonistik. Kaum mit geringerem Recht
als die Gegenwart das Zeitalter der Naturwissenschaften und
der Technik kann man die Vergangenheit von der Mitte des
zwölften Jahrhunderts bis ins fünfzehnte hinein die kanoni-
stische Periode nennen. Die Kanonistik hat damals die Welt
in Atem gehalten, hat sie sogar in einem Maße, wie es kaum
einem wissenschaftlichen System vorher und nur wenigen
nachher beschieden war, beherrscht. Ja, noch lange dar-
über hinaus war sie die festeste Stütze der Herrschaftsan-
sprüche des Papsttums und der katholischen Kirche. Von
ihr als von einem schier unerschöpflichen Kapitale zehrt der
Katholizismus bis auf den heutigen Tag.
Und doch wissen wir über die Umstände, unter denen
die mittelalterlich-kirchliche Rechtswissenschaft entstand, im
Grunde genommen herzlich wenig. Zwar ist gleich der Erstling
der neuen Disziplin, das Dekret Gratians, umfangreich genug
und scheint uns so Lügen zu strafen. Aber dies Dekret hat,
auf den ersten Blick wenigstens, ein merkwürdig unpersön-
liches Gepräge: ein fast unübersehbarer Haufe der verschieden-
artigsten Quellenstellen aus allen Zeiten und von überall her,
die — vom Standpunkte der modernen Buchtechnik aus ge-
sprochen — aus den Anmerkungen in den Text geraten sind
Zeitschrift für Rechtsgeschichte. XXXII. Kan. Abt. I. 1